„Ich gehe. Es ist möglich, dass eine so schreckliche Sache geschieht, so wie es möglich ist zu sterben, obwohl man noch eine Sekunde zuvor gelacht hat. Genauso einfach ist das, und genauso unbegreiflich.“
Kimiâ Sadr, die Ich-Erzählerin des Romans und Alter Ego der Autorin Négar Djavadi, nimmt den Leser mit auf die Reise in die Vergangenheit ihrer Familie.
Djavadi erzählt von der Herrschaft des Schahs und der Geheimpolizei SAVAK, von Verhaftung und Eliminierung, von der kommunistischen Partei Tudeh und dem Leben im Untergrund, von der Rückkehr Chomeinis aus dem Exil und der Gründung der Islamischen Republik, von Hoffnung und Enttäuschung, von Flucht und Migration, vom Leben im Exil und den Schwierigkeiten, an einem anderen Ort anzukommen und weiterzuleben.
Mir hat der Einstieg ins Buch sehr gut gefallen, und die Art und Weise, wie Djavadi bzw. ihr Alter Ego Kimiâ sich direkt an den Leser wendet, wie sie vertraut mit diesem spricht und dass sie ein sehr mysteriöses erstes Kapitel gewählt hat, das viele Fragen aufwirft, hat mich neugierig auf den Roman gemacht.
Die nachfolgenden Kapitel haben mich durch die vielen Verschachtelungen, die beinahe an 1001 Nacht erinnern, da die Autorin immer weiter abschweift und immer neue Aspekte anspricht, jedoch eher verwirrt statt begeistert, auch wenn mir die vielen geschichtlichen Informationen, die man durch die Autorin und ihre Familiengeschichte erhält, gut gefallen haben. Die ausführlichen Geschehnisse in der Familie Sadr werden immer wieder unterbrochen von den Ereignissen in der Kinderwunsch-Abteilung eines Krankenhauses, in denen man Kimiâs Insemination im Detail verfolgen kann.
Auch wenn ich viele Episoden im Roman sehr gelungen fand, mich die vielen Momente, in denen man als Leser sehr eindrücklich von historischen Ereignissen erfährt, begeistert haben und mich Desorientale durch seine anspruchsvolle Sprache mit kreativen Wortneuschöpfungen (z.B. „ajatollisiert“) überzeugen konnte, habe ich erst ab der Hälfte wirklich in den Roman gefunden. Bis dahin hat Desorientale als Gesamtwerk für mich nicht recht funktioniert, da ich die Ausführungen als allzu inkohärent empfunden habe. Auf der sogenannten „B-Seite“ des Romans, die sich – wie bei einer Schallplatte – ganz grundlegend von der „A-Seite“ unterscheidet, habe ich all das gefunden, was ich im ersten Teil des Romans vermisst habe, wurde mitgerissen, konnte das Buch kaum weglegen, war bewegt und berührt.
Desorientale ist ein Debütroman, der dem Leser den Iran sehr nahe bringen kann, da hier die Geschichte, die Politik, die Traditionen und der Alltag sehr ausführlich vorgestellt werden, der jedoch auch zeigt, welche Wunden durch das Weggehen aus der Heimat entstehen können, wie man sich verloren und nirgends zugehörig fühlen kann. Letztendlich ist es ein Buch, das ich sicherlich noch einmal lesen muss und möchte, da ich beim ersten Lesen oft keinen Zugang gefunden habe, ich nach Beendigung des Romans jedoch das deutliche Verlangen habe, nochmals im Detail den Ausführungen Djavadis zu folgen.
Négar Djavadi: Desorientale. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. C.H. Beck, 2017, 399 Seiten; 22 Euro.
Dieser Post ist Teil des Iran-Themas im Oktober 2017.