„Apathisch fragte sie sich, was sie getan hatte, dass alle sie verließen.“ (CD 1, Track 82)
Die sechsjährige Kya Clark lebt zusammen mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern in der Nähe der Küstenstadt Barkley Cove mitten im Marschland. In den frühen 1950er Jahren verlässt erst die Mutter die Familie, und nach und nach gehen auch Kyas Geschwister aufgrund des gewalttätigen und alkoholkranken Vaters aus dem Elternhaus fort. Nur Kya und ihr Vater bleiben zurück, doch auch er bleibt oft tagelang weg und verschwindet dann ganz, lässt das Mädchen allein mit Haushalt und Alltag.
Kya, die die Schule nur einen Tag besucht hat und aufgrund der Hänseleien der anderen Kinder nie zurückgekehrt ist, erkundet mit dem Boot ihres Vaters das Marschland, lernt von ihrem Freund Tate Lesen, Schreiben und Rechnen, eignet sich auf eigene Faust Wissen über das Marschland und die darin lebenden Tiere und Pflanzen an.
Als im Oktober 1969 die Leiche von Chase Andrews im Sumpf gefunden wird, erinnern sich die Bewohner der Umgebung daran, dass dieser viele Jahre zuvor Kontakt mit dem sonderbaren Marschmädchen Kya hatte, und geben ihr die Schuld an seinem Tod.
Schon der Einstieg in den Roman macht deutlich, dass man es hier mit einem besonders stimmungsvollen Buch zu tun hat, und auch im weiteren Verlauf gelingt Delia Owens eine sehr eindringliche und lebendige Schilderung des Marschlands. Ich empfand den Roman von Anfang bis Ende sehr gelungen, und es gab keine Stelle, die ich langatmig oder weniger spannend gefunden hätte.
Owens nimmt den Leser/Hörer tatsächlich mit ins Marschland und zu seiner besonderen Flora und Fauna. Sie führt Figuren ein, die auf ganzer Linie überzeugen, so dass man sich mit ihnen identifizieren, mit ihnen leiden und sich mit ihnen freuen kann, mit ihnen mitfiebert und mithofft. Tatsächlich hat mich Der Gesang der Flusskrebse so stark bewegt und berührt, mich so sehr in seinen Bann geschlagen, wie lange kein anderes Buch mehr, und ich habe das Hörbuch größtenteils am Stück und mit großer Faszination gehört.
Die Sprecherin Luise Helm passt perfekt zu dieser wunderschönen, aber nie schwülstigen oder kitschigen Geschichte, die unglaublich atmosphärisch ist und ebenso atmosphärisch vorgetragen wird.
„Es gibt Geräusche, natürlich, aber verglichen mit der Marsch, ist der Sumpf still, denn Verwesung ist ein zelluläres Geschäft. Leben zerfällt und stinkt und wird erneut zu Humus; ein elender Schlamm des Todes, der Leben erzeugt.“ (CD 1, Track 1)
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Gekürzte Lesung mit Luise Helm. Hörbuch Hamburg, 2019; 22 Euro.