„In Interesse der Diskussion möchte ich nochmals hervorheben, daß es sich bei der Kraepelin‘schen Dementia praecox weder um eine notwendige Dementia, noch um eine notwendige Praecoxitas handelt. Aus diesem Grunde und weil man von dem Ausdruck Dementia praecox keine adjektivischen und substantivischen Weiterbildungen machen kann, erlaube ich mir, hier das Wort Schizophrenie zur Bezeichnung des Kraepelin‘schen Begriffes zu benützen. Ich glaube nämlich, daß die Zerreißung oder die Spaltung der psychischen Funktionen ein hervorragendes Symptom der ganzen Gruppe sei […]“ (Seite V)
Einerseits kann man Eugen Bleuler dankbar sein, dass er 1908 vorschlug, den ebenso entsetzlichen wie falschen Begriff der „Dementia praecox“ mit dem Begriff der „Schizophrenie“ zu ersetzen. Andererseits hat sein Begriff „Schizophrenie“ dafür gesorgt, dass die Krankheit häufig missverstanden wird, die Allgemeinbevölkerung eine inkorrekte Vorstellung von den Symptomen einer Schizophrenie hat, und die Erkrankung oft mit der Dissoziativen Identitätsstörung verwechselt wird. Einen richtig großen Gefallen hat er Betroffenen letztendlich also nicht getan.
Ich beschäftige mich schon seit 25 Jahren mit der Schizophrenie, und ich habe unzählige Bücher zum Thema gelesen. Nun könnte man natürlich fragen, wieso ich ein Buch lese, das vor 109 Jahren erstmals veröffentlicht wurde, wo doch seitdem Unmengen an Büchern erschienen sind, die neueste Forschungsergebnisse und Behandlungsmöglichkeiten enthalten. Die Antwort ist einfach: Niemand hat die Schizophrenie je wieder in diesem Detail und mit dieser unglaublichen Beobachtungsgabe beschrieben wie Bleuler zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und zudem findet man in seiner Publikation Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien gewissermaßen Krankheitsbeschreibungen in Reinform und ein Bild der Schizophrenie, die man durch die Entdeckung der Antipsychotika in den 1950er Jahren und die exzessive Medikation von Menschen mit Schizophrenie heute gar nicht mehr beobachten könnte, selbst wenn man dies wollte.
Einfach zu lesen ist Bleulers Jahrhundertwerk nicht. Dies liegt zum einen an der bisweilen antiquierten, umständlichen Sprache und am eher altmodischen Reprint-Layout des Buches, zum anderen aber auch an der Tatsache, dass man beim Lesen manchmal schlucken muss, weil einige seiner Schilderungen heute eindeutig unter „menschenverachtend“, „respektlos“ und „abwertend“ laufen würden.
In Bezug auf Bleulers psychopathologische Ausführungen ist das Buch jedoch einzigartig, spannend, lehrreich, aufklärend, wertvoll und schlichtweg beeindruckend. Bleuler bietet hier faszinierende Einblicke in die Schizophrenie, beschreibt beobachtete Phänomene sehr genau, führt viele Beispiele an, erklärt Grundsymptome und akzessorische Symptome, Untergruppen, Verlauf, Häufigkeit, Ursachen, Therapie etc.
Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien ist nicht nur eine Glanzleistung der Beobachtung von Psychopathologie, sondern auch ein Zeitdokument, und das Buch zeigt letztendlich, wie viel sich in 100 Jahren im Bereich der Erforschung und Behandlung der Schizophrenie getan hat, dass wir viele Dinge aber immer noch nicht besser wissen als vor 100 Jahren und dass sich an der Stigmatisierung der Schizophrenie seither erschreckend wenig getan hat.
„Die Assoziationstätigkeit wird also oft nur durch Bruchstücke von Ideen und Begriffen bestimmt; schon dadurch bekommt sie neben dem Inkorrekten etwas Bizarres, für den Gesunden Unerwartetes; oft auch hört sie mitten in einem Gedanken, oder wenn sie auf einen anderen Gedanken übergehen sollte, plötzlich auf, wenigstens so weit sie bewußt ist (Sperrung); statt der Fortsetzung tauchen dann manchmal neue Ideen auf, die weder das Bewusstsein des Patienten selbst noch der Beobachter in Zusammenhang mit dem früheren Gedankeninhalt bringen kann.“ (Seite 6)
Eugen Bleuler: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Unveränderte Neuauflage der Ausgabe von 1911. Psychosozial-Verlag, 2014, 445 Seiten; 39,90 Euro.
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