„Früher gab es innerhalb der Enklave zwei Teiche, länglich, nebeneinander liegend. Dahinter erstreckte sich ein Tiefland von mehreren Hektar Ausmaß.“
Die Brüder Subhash und Udayan wachsen in Tollygunge auf, einem Vorort von Kalkutta, und entdecken gemeinsam das Leben und ihre unmittelbare Umgebung. Sie erkunden das zu Monsunzeiten überschwemmte Tiefland, sie brechen nachts in den Tolly Club ein, um eine Partie Golf zu spielen, und sie beschäftigen sich mit wissenschaftlichen und technischen Themen. Die beiden sind sich äußerlich sehr ähnlich, doch unterscheiden sich bezüglich ihres Charakters deutlich: der ältere Subhash ist vernünftig und eher unauffällig, der 15 Monate jüngere Udayan ist wild und rebellisch.
Die beiden sind in ihrer Kindheit und Jugend unzertrennlich, und Subhash hat ohne Udayan „kein Gefühl von sich selbst“. Doch nach der Schule entscheiden sie sich für unterschiedliche Colleges und verschiedene Fächer, finden neue Freunde. Udayan engagiert sich schließlich aktiv in der Politik und wird ein glühender Anhänger von Mao und den Naxaliten. Subhash teilt die Begeisterung Udayans nicht und „war die Angst leid, die jedes Mal in ihm aufstieg: die Angst, er würde aufhören zu existieren, er und Udayan wären nicht mehr Brüder, wenn er sich gegen ihn stellte“.
Nach und nach entfremden sich die beiden Brüder, und dann geht Subhash als Doktorand nach Rhode Island, während Udayan in Indien bleibt und sich im Kampf für eine bessere Welt immer mehr radikalisiert.
Ich habe alle bisher auf Deutsch erschienenen Bücher der Autorin mit großer Begeisterung gelesen, doch Das Tiefland ist meiner Meinung nach das bislang beste und eindrucksvollste Buch von Jhumpa Lahiri.
Lahiri versteht es auch in Das Tiefland meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, ihre Emotionen und Gedanken lebendig zu schildern und den Leser so an ihrer Geschichte teilhaben zu lassen. Beim Lesen fühlt man sich, als wäre man selbst involviert, eine Freundin oder Familienangehörige, jemand, der von der Freude und dem Leid der Figuren direkt betroffen ist.
Dabei gelingt Lahiri nicht nur eine detailreiche Beschreibung der Personen und der Orte, sondern sie bietet zudem Einblicke in die Geschichte Tollygunges, Indiens und der restlichen Welt.
Beim Lesen von Lahiris Büchern bin ich jedes Mal beeindruckt von ihrem Schreibstil, der anspruchsvoll ist und sich dennoch flüssig lesen lässt. Auch Das Tiefland besticht durch die sowohl gewählte als auch unkomplizierte Sprache, die dafür sorgt, dass das Buch durchweg unterhaltsam ist und man als Leser dennoch eine besondere Leseerfahrung macht.
Das Tiefland ist ein Roman hoher Komplexität, der ein ganzes Leben umfasst und der auf eindringliche und eindrückliche Weise und trotz aller Komplexität stets stringent und nie überbordend erzählt wird.
Jhumpa Lahiri: Das Tiefland. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Rowohlt, 2014, 521 Seiten; 22,95 Euro.
Diese Rezension ist Teil des Indien-Themas im Januar 2017.