„Aber das Fatale, was ich bei den Medikamenten sehe, ist die Verpackung. […] Was da als Botschaft rüberkommt: Du bist falsch, da ist was in dir defekt, das müssen wir jetzt ändern. […] Da kommt was zu kurz, was nötig ist, um geheilt zu werden, um da rauszukommen.“ (Thomas Bock in Leben mit Psychopharmaka)
Ich kenne Menschen, die von der Einnahme von Psychopharmaka profitieren, die wenige Nebenwirkungen haben oder diese gut tolerieren können, die sich durch die Medikamente besser fühlen. Ich kenne aber auch die andere Seite: Menschen mit ausgeprägten extrapyramidal-motorischen Störungen durch jahrzehntelangen Gebrauch von typischen Antipsychotika, einen Freund mit Schizophrenie, der bisweilen Antipsychotika in solchen Mengen bekommen hat, dass er kaum kommunikationsfähig war, eine Freundin mit Paroxetin-Entzugssyndrom und die Macht, die in manchen psychiatrischen Einrichtungen durch Bedarfsmedikation und Fixierung über Patienten ausgeübt wird.
Nicht alles schlucken/Leben mit Psychopharmaka spricht all diese Facetten der Psychopharmakotherapie an und hat mir teilweise den Boden unter den Füßen weggerissen – obwohl oder gerade weil ich die Themen kenne, einen persönlichen Bezug dazu habe und sehr gut einschätzen kann, dass das Gesagte authentisch und ein Abbild der Realität ist.
Nicht alles schlucken/Leben mit Psychopharmaka ist beklemmend und erschütternd, und bisweilen hatte ich Schwierigkeiten, den Film weiter zu verfolgen, weil es so bewegend war, die Betroffenen mit ihren Nebenwirkungen zu sehen und ihren Geschichten von Entwürdigung zuzuhören, die Hilflosigkeit der Angehörigen zu spüren, die Versuche der Professionellen zu erleben, die es sich zum Ziel gemacht haben, an der Behandlung in psychiatrischen Kliniken etwas zu ändern.
Wie in dem Film Raum 4070/Psychosen verstehen, den ich einige Monate vor Nicht alles schlucken/Leben mit Psychopharmaka mit großer Begeisterung und tief bewegt angeschaut habe, kommen auch in Nicht alles schlucken/Leben mit Psychopharmaka Betroffene, Angehörige und Professionelle zu Wort, die sich über verschiedene Themen rund um Psychopharmakotherapie austauschen und so einen komplexen Einblick in die Thematik erlauben. Und auch hier hat mich die Offenheit und Ehrlichkeit aller Teilnehmer beeindruckt, die über sehr persönliche Momente sprechen und den Zuschauer an ihrem Leben und ihrem Leiden teilhaben lassen. Die Kameraführung bewirkt dabei, dass man sich mit im Raum und als Teil der Gruppe fühlt. Manche Situationen – langes Schweigen, Weinen – sind dabei nur schwer aushaltbar, machen nachdenklich, wütend und berühren.
Gesprochen wird u.a. vom Segen und Fluch der Medikamente, von Überdosierung, Zwangseinweisung, Fixierung, Nebenwirkungen, Wut, Entmenschlichung, Angst, Aggression, Gewalt, Gefühl des Bedrohtseins, Verzweiflung, Ohnmacht, Machtmissbrauch, Entwürdigung, Demütigung, Kinderwunsch und Selbstbestimmung.
Der Film ist nicht nur klug und augenöffnend, sondern auch hoffnungsvoll und hat mir gezeigt, dass es auch zahlreiche Behandler gibt, die nicht nur auf Psychopharmaka setzen, sondern an einer komplexeren Betrachtung von psychischen Störungen interessiert sind und sich mit großer Kraft und viel Engagement dafür einsetzen, dass Betroffene nicht nur medikamentös behandelt werden.
Nicht alles schlucken. Ein Dokumentarfilm von Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels. Leben mit Psychopharmaka. Ein Lehrfilm: Montage von Piet Stolz und Frederik Bösing. Psychiatrie Verlag, 2015; 30 Euro.
Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.