„In einem benachbarten Hain mit Bäumen kreischte regelmäßig ein Vogel, den wir den ‚Aufziehvogel‘ nannten, weil er klang, als würde man eine Feder aufziehen. Den Namen hatte Kumiko ihm gegeben. Wie er wirklich hieß, wussten wir nicht. Auch nicht, wie er aussah. Dessen ungeachtet kam der Aufziehvogel jeden Tag in den Hain und zog die stille Welt auf, deren Teil wir waren.“ (CD 1, Track 4)
Toru Okada hat vor zwei Monaten seine Stelle in einer Anwaltskanzlei gekündigt und kümmert sich seitdem um den Haushalt, während seine Frau Kumiko arbeiten geht und das Geld nach Hause bringt.
Als der Kater des Paares verschwindet, macht sich Toru Okada auf die Suche und geht zu einem verlassenen Haus am Ende der Gasse, wo er die 16-jährige May Kasahara kennenlernt, mit der er sich in der Folge mehrfach trifft.
Immer mehr sonderbare Dinge geschehen in Toru Okadas Leben: Er erhält mysteriöse Anrufe, lernt zwei Schwestern kennen, die sich Malta und Kreta Kano nennen, bekommt erotische Anrufe und träumt von sexuellen Abenteuern – bis er schließlich in den Brunnen im Garten des verlassenen Hauses steigt.
Ich habe vor fast 20 Jahren die alte Übersetzung des Romans gelesen, die 1998 erstmals in deutscher Übersetzung (aus dem Englischen, nicht direkt aus dem Japanischen) erschien und Mister Aufziehvogel hieß. Ich habe seitdem viele Bücher von Haruki Murakami gelesen, doch Mister Aufziehvogel war immer mein Lieblingsbuch des japanischen Autors.
Nun habe ich die Neuübersetzung von Ursula Gräfe (erstmals direkt aus dem Japanischen) als Hörbuch gehört, und kann immer noch sagen: Die Chroniken des Aufziehvogels ist ein wunderbarer Roman, der spannend, geheimnisvoll und reichlich bizarr ist – doch mein Lieblings-Murakami ist mittlerweile eher der zweibändige Roman Die Ermordung des Commendatore (Teil 1, Teil 2).
In Die Chroniken des Aufziehvogels findet man alles, was einen typischen Murakami-Roman ausmacht, und es handelt sich um einen Roman, bei dem mir immer wieder das Herz aufgeht, weil er so stimmungsvoll und so sonderbar ist, man viele Einblicke in die japanische Gesellschaft und die Geschichte des Landes erhält, und weil man beim Lesen/Hören einfach auf vollkommen andere Gedanken kommt.
Einen Unterschied zur alten Übersetzung aus dem Englischen konnte ich, ehrlich gesagt, nicht feststellen. Ich denke, dafür ist die Lektüre einfach schon zu lange her. Doch gelungen finde ich die Übersetzung allemal.
David Nathan liest den Roman (wie immer!) perfekt und ist für mich einfach die beste Besetzung für Murakamis Werke. Durch seine ausdrucksstarke Stimme und die gelungene Interpretation des Romans konnte ich stundenlang lauschen, und die mehr als 28 Hörstunden sind ein großer Genuss.
So toll ich den Roman finde: Als etwas lang geraten und als einen Ticken zu ausufernd empfinde ich ihn durchaus. Aber nichtsdestotrotz: Grandioser Roman.
Haruki Murakami: Die Chroniken des Aufziehvogels. Übersetzung aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Ungekürzte Lesung von David Nathan. Hörbuch Hamburg Verlag, 2020; 34 Euro.
Dieser Post gehört zum Vogel-Monatsthema im Dezember 2021.
Ein Gedanke zu „Die Chroniken des Aufziehvogels von Haruki Murakami (Hörbuch)“