„Nichts an ihr passte zusammen, sie gehörte nicht zu uns auf Station, und gleichzeitig gab es keinen Ort, wo sie besser aufgehoben wäre. Der Gedanke erschien mir plötzlich unheimlich tröstlich.“ (Seite 74)
Grün ist Krankenpfleger in der Psychiatrie und arbeitet seit knapp 20 Jahren auf einer geschlossenen Station. Er hat Routine in seinem Beruf, ist erfahren, kennt die immer wiederkehrenden Patienten, hat seinen Umgang mit herausfordernden Patienten gefunden.
Eines Tages taucht eine neue Patientin auf, die ganz in ihrer Welt versunken scheint. Grün findet Zugang zu ihr – und übertritt schließlich Grenzen.
Annika Domainkos Roman über Grenzen und Grenzüberschreitungen, Macht und Allmachtsfantasien, Psychose und Abhängigkeit, Kontrolle und Kontrollverlust hat mich mitgenommen in eine Welt, die vielen Menschen verschlossen bleibt und über die viele stereotype Vorstellungen und Halbwahrheiten im Umlauf sind – in eine Welt, die ich sehr gut kenne, denn ich bin seit fast 30 Jahren in der Psychiatrie tätig, als Krankenschwester, in der Wissenschaft, als klinische Psychologin.
Den von Domainko gewählten Fokus auf die Psychiatrie fand ich gelungen und authentisch: Hier gibt es keine Szenen, die man in anderen Büchern oder Filmen findet, obwohl durchaus auch Gewalt thematisiert wird. Hier geht es um Themen, die ich enorm wichtig finde, die jedoch kaum behandelt werden, über die man nicht spricht, die man lieber ausblendet.
Dabei empfand ich Grün schon zu Beginn des Buches als extrem grenzüberschreitend und distanzlos, manipulativ und unprofessionell. Diese Charakterisierung ist Domainko hervorragend gelungen, und die Thematik des Romans hat mich sehr fasziniert.
Die Verbindung zwischen der Patientin und Grün hat mich aber sonderbar kalt gelassen. Auch die Patientin selbst hat bei mir kaum etwas ausgelöst, und außer für Grün, der mich so abgestoßen hat, habe ich wenig Gefühle für die Figuren entwickelt, was für mich eher untypisch ist.
Annika Domainko: Ungefähre Tage, C.H. Beck, 2022, 222 Seiten; 23 Euro.