„Seit Langem studierte ich ebendiese Taktik, die Aljechin-Verteidigung. Mehr oder weniger zufällig hatte ich sie in der Enzyklopädie entdeckt, und sofort hatte alles an dieser Eröffnung meine Bewunderung hervorgerufen: dieser anfängliche Satz des Springers, den man auf den ersten Blick für einen extravaganten, kindischen Zug halten konnte; die heroische, fast schon abfällige Art und Weise, mit der die Schwarzen gleich zu Beginn die mit der Eröffnung stets angestrebte Kontrolle über das Zentrum für einen fernen, vagen Stellungswechsel opferten; und vor allem die Tatsache, dass es die einzige Eröffnung war, die der Weiße nicht ablehnen oder mit einer anderen Taktik abwenden konnte.“ (Seite 7)
In einer Bar im Club Olimpo treffen sich allabendlich die Schachspieler von Puente Viejo. Hier begegnet der Ich-Erzähler erstmals dem talentierten Gustavo Roderer, mit dem er eine Schachpartie spielt, die den Ich-Erzähler zunehmend frustriert:
„Roderer schien zu keinem Gegenangriff gewillt, keine sichtbare Bedrohung schwebte über meinen Figuren, und dennoch empfand ich jedes seiner Manöver als eine dunkle Gefahr, die Ahnung ließ mich nicht los, dass sich dort subtil und unausweichlich etwas anbahnte, das zu greifen mir nicht gelang.“ (Seite 9f)
Die beiden Jungen freunden sich an, doch während der Ich-Erzähler irgendwann die Stadt und schließlich auch das Land verlässt, bleibt Roderer im Haus seiner Mutter leben, bricht die Schule ab und vergräbt sich in seinen Büchern und seinen Gedanken.
Ich habe schon als Kind Schach geliebt, und durch den Einstieg ins Buch mit der Schachpartie hat Guillermo Martínez, von dem ich bislang noch nichts gelesen hatte, mein Herz im Nu erobert. Martínez baut durch das Schachspiel sofort eine ebenso lebendige wie authentische Stimmung auf, hat mich nach Lateinamerika versetzt und mich die Szenerie geradezu hautnah erleben lassen.
Auch im weiteren Verlauf erzählt Martínez eine spannende Geschichte, in der Schach schließlich kaum noch eine Rolle spielt, die sich vielmehr um Mathematik, Literatur, Liebe, Freundschaft, Krankheit und Tod dreht. Martínez gelingt es dabei, eine komplexe Geschichte auf kaum mehr als 100 Seiten zu entwerfen, in der er nicht nur einer besonderen Freundschaft eine Bühne bietet, sondern auch von zwei ganz unterschiedlichen Leben berichtet, die dennoch eine gemeinsame Schnittmenge haben.
Guillermo Martínez: Roderers Eröffnung. Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Angelica Ammar. Eichborn, 2021, 112 Seiten; 14 Euro.
Dieser Post ist Teil des Schach-Monatsthemas im Januar 2022.