„Ich ticke etwas anders und brauche deshalb individuelle Strategien. Ich bin anders belastbar und muss meiner Psyche immer wieder Zeit geben, sich zu regenerieren. Durch die Diagnose habe ich das erkannt und konnte endlich ein bisschen Frieden mit mir selbst schließen.“ (Seite 13)
Angelina Boerger erzählt in ihrem Buch von ihrer Kindheit und Jugend, wo sie tagtäglich gemerkt hat, dass sie anders als die anderen war, vom ständigen Kampf mit sich, um so zu sein wie die anderen, von der Befreiung durch die Diagnosestellung:
„Endlich hatte ich den eindeutigen Beweis, dass ich nicht einfach zu faul, ungezogen, anstrengend, auffällig, unmotiviert, unzuverlässig oder dumm war.“ (Seite 145)
Sie berichtet in Kirmes im Kopf von der Geschichte der AD(H)S, von Exekutivfunktionen, von Prokrastination, von Diagnostik und Komorbiditäten, von Psychotherapie und Pharmakotherapie, von Rejection Sensitive Dysphoria und Emotionsregulation, von Auswirkungen der AD(H)S auf Beziehungen sowie von kategorialer Diagnostik und Normalität.
Bis vor knapp zwei Jahren hätte ich auf die Frage, über welche psychische Störung ich am wenigsten weiß, sehr sicher „AD(H)S im Erwachsenenalter“ gesagt. Das hat sich zum Glück geändert, und auch wenn AD(H)S im Erwachsenenalter weder in meinem Nebenfach Psychopathologie noch in meiner Verhaltenstherapie-Ausbildung thematisiert wurde, habe ich mich nunmehr recht gut ins Thema eingearbeitet.
Da ich Betroffenen und Angehörigen sehr gerne gute Bücher über Diagnosen und relevante Problembereiche empfehle, habe ich dieses Buch gelesen. Und es ist sehr sicher ein Buch, das ich anderen ans Herz legen werde.
Boerger ist witzig, selbstironisch, entwaffnend ehrlich, wertschätzend, aufklärend, sympathisch, und jede Zeile ihres Buches hat mir Freude bereitet, mir viel Wissen vermittelt, Bekanntes wiederholt, mich einfühlen lassen. Dabei hat sie die Komplexität des Themas hervorragend eingefangen, und beim Lesen habe ich mich oft gefragt, wie sie das wohl geschafft hat, denn sie reißt so viele Themen an, berichtet dabei ebenso fundiert wie verständlich, dass ich manchmal nur staunen konnte.
Ich werde das Buch sicherlich nicht nur Betroffenen und Angehörigen empfehlen, sondern auch Professionellen, denn auch unter den Behandelnden gibt es ein großes Wissensdefizit, und es ist wirklich an der Zeit, diese Lücke zu schließen.
„Denn leider machen die Vorurteile und falschen Annahmen auch vor Menschen, die sich eigentlich damit auskennen sollten, keinen Halt. Besonders wenn es um ADHS im Erwachsenenalter geht.“ (Seite 138).
Angelina Boerger: Kirmes im Kopf. Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe. Kiepenheuer & Witsch, 2023, 304 Seiten; 18 Euro.