Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien

„Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. Aber wer bin ich jetzt?“ (Seite 128)

Sommer 1990 in einem Dorf an der deutsch-deutschen Grenze: Die 16-jährige Maria ist zu ihrem Freund auf den Brendel-Hof gezogen. Sie ist in der 10. Klasse, doch schwänzt oft die Schule, liest lieber Die Brüder Karamasow und hilft auf dem Hof und im Haushalt mit.

Auf dem Nachbarhof wohnt der 40-jährige Henner, dessen Frau vor vielen Jahren ausgezogen ist, dessen Hof heruntergewirtschaftet ist, der im Dorf ein Außenseiterdasein fristet, seine Tage und Nächte mit Büchern und mit Alkohol verbringt.

Zwischen Maria und Henner entwickelt sich eine Affäre, die auf die Jugendliche einen unvorstellbaren Sog ausübt, so dass sie sich bald mehr und mehr in Lügen verstrickt und zwei Leben führt, die kaum etwas miteinander gemein haben.

Ich habe alle Bücher, die bisher von Daniela Krien erschienen sind, mit großer Begeisterung gelesen, aber erst jetzt ihren Debütroman Irgendwann werden wir uns alles erzählen, der bereits 2011 erschienen ist. Und dieses Buch zählt jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern 2023, und vielleicht ist es sogar mein absolutes Lieblingsbuch in diesem Jahr – Potenzial dazu hat es allemal.

Ich bin selbst in der DDR aufgewachsen und empfand die Stimmung im Buch authentisch und überzeugend, so dass das Ganze für mich eine sehr lebendige mentale Zeitreise war.

Krien hat mich in das Dorf an der innerdeutschen Grenze und in die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ versetzt, in der ich im Sommer 1989 selbst vier Wochen verbracht habe, hat mich mitgenommen in die aufregende, aufwühlende, alles verändernde Zeit zwischen dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, hat mich einfühlen lassen in Marias Hin- und Hergerissensein.

Krien erzählt ihr Debüt mit einer Sprachgewalt, die mich wirklich beeindruckt hat. Der Roman ist sowohl anspruchsvoll als auch leichtfüßig erzählt, ist eindringlich, lebendig und vollkommen lebensnah und echt. Die Geschichte ist aus dem Leben gegriffen und trotzdem besonders: berührend, mitreißend, am Ende so emotional, dass mir die Tränen kamen – und trotzdem ist Irgendwann werden wir uns alles erzählen zu keinem Zeitpunkt rührselig oder kitschig.

Der Autorin gelingt zudem etwas, woran die meisten Autorinnen und Autoren meiner Meinung nach scheitern: Sie kann über Sexualität schreiben, ohne billig oder schnulzig zu sein.

Wirklich alles an diesem Roman hat mir gefallen.

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Diogenes, 2022, 272 Seiten; 25 Euro.

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