
„Es ist nicht lange her, da wurde Autismus in erster Linie mit Männern und Jungen in Verbindung gebracht. Die empirische Forschung ging lange von einem Geschlechterverhältnis von 8:1 aus. Autistische Frauen und Mädchen: eine Rarität.
[…] Vielleicht steckt ja ein Körnchen Wahrheit in der Theorie. Was aber sicher nicht stimmt, ist die Annahme, dass Autismus nur Jungen und Männer betrifft. Zumindest aus klinischer Sicht wird immer deutlicher, dass wir lange Zeit nicht deswegen Mädchen und Frauen mit Autismus außer Acht gelassen haben, weil Autismus auf das männliche Geschlecht beschränkt wäre, sondern weil unser Blick auf Autismus eingeengt war.“ (Seite 9)
Manon Mannherz, Ismene Ditrich und Christa Koentges erzählen in ihrem Buch Die Welt autistischer Frauen und Mädchen davon, was Autismus überhaupt ist, wie sich Autismus im Alltag zeigt, wie Frauen und Mädchen mit Autismus vom Kindergarten bis zur Menopause leben, welche Begleiterkrankungen bei Frauen und Mädchen mit Autismus auftreten können, welche Ressourcen und Stärken Frauen und Mädchen mit Autismus aufweisen können, wie die Diagnose gestellt wird und wie die Diagnostik abläuft, welche Identitätsprobleme auftreten können, wie die Therapie für autistische Frauen und Mädchen aussieht und welche Selbsthilfestrategien es gibt.
Autismus-Spektrum-Störungen sind diejenigen psychischen Störungen, mit denen ich mich am allerwenigsten auskenne, weshalb ich mit viel Neugier und Interesse das Buch gelesen habe.
Insgesamt haben mir die sehr verständlichen, entstigmatisierenden und respektvollen Ausführungen sehr gut gefallen, und das Buch hat mir durchaus Wissen vermittelt. Aber ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob mir nach der Lektüre Autismus-Spektrum-Störungen in Zukunft etwas besser ins Auge springen werden.
Bisweilen fand ich die Schilderungen nicht so klar, wie ich mir das wünschen würde, um diagnostisch besser einschätzen zu können, ob Autismus vorliegt oder nicht. Auf Seite 74 findet man zum Beispiel Ausführungen zum Sozialleben von Menschen mit Autismus. Die Autorinnen sprechen hier von geborenen Einzelgängerinnen, die es in der Gruppe von Autistinnen geben kann, von integrierten Personen, die ein großes soziales Netzwerk aufweisen, und von denjenigen Menschen, die ungewollt einsam sind. Diese Einordnung hilft mir persönlich kaum, denn sie zeigt mir eigentlich nur, dass wir alle verschieden sind, egal ob wir Autistinnen oder keine Autistinnen sind. Wie ich anhand solcher Beschreibungen Autismus besser erkennen könnte, ist mir schleierhaft.
Ich verstehe, dass es manchmal keine einfachen Antworten gibt, aber hier empfand ich einige Ausführungen als zu vage. Dennoch habe ich durch die Lektüre wichtige und spannende Impulse bekommen, und das Buch hat mich neugierig gemacht auf eine weitere Beschäftigung mit Autismus-Spektrum-Störungen, vor allem bei Frauen und Mädchen.
Manon Mannherz, Ismene Ditrich und Christa Koentges: Die Welt autistischer Frauen und Mädchen. Warum sie anders genau richtig sind. Beltz, 2025, 256 Seiten; 22 Euro.