„Die hauptsächlichste Qual war die Ungewissheit, der Zweifel, der Zwiespalt, das Nicht-Wissen, ob ich sie lieben oder hassen sollte.“
Lew Nikolajewitsch Tolstois Novelle Die Kreutzersonate entstand in den 1880er Jahren, wurde 1890 in deutscher Sprache erstveröffentlicht und erschien 1891 erstmals auf Russisch. Benannt wurde die Novelle nach Ludwig van Beethovens Violinsonate A-Dur op. 47, die als Kreutzer-Sonate Bekanntheit erlangte und die in der Novelle eine zentrale Rolle spielt.
Tolstoi erzählt in seiner Novelle von Posdnyschew, der seine Frau getötet hat, jedoch freigesprochen wurde und sich nun auf einer längeren Zugfahrt befindet. Dabei ergibt sich eine Diskussion mit anderen Reisenden, in deren Folge Posdnyschew von seinen Grundüberzeugungen, seiner Ehe, seiner Leidenschaft, seiner Eifersucht und schließlich von seinem Verbrechen erzählt.
Ich habe ein großes Faible für russische Autoren des 19. Jahrhunderts und zähle Tolstoi seit der Lektüre von Anna Karenina zu meinen Lieblingsautoren. Die Kreutzersonate habe ich bereits vor mehr als zehn Jahren gelesen und nun als Hörbuch gehört.
Wie es recht typisch für Tolstoi ist, holt er etwas weiter aus, und so gibt es anfangs durchaus Passagen, die entbehrlich scheinen, deren Detailliertheit man nicht immer nachvollziehen kann. Wie stets bei Tolstoi kommt aber auch bei der Kreutzersonate ein Wendepunkt, an dem der Leser vollends in die Geschichte gezogen wird – gewissermaßen ein „point of no return“, an dem man fieberhaft und atemlos weiterlesen oder -hören muss.
Die Kreutzersonate ist über weite Strecken hinweg ein philosophischer Text, in dem Tolstoi seine ureigenen Anschauungen und Überzeugungen transportiert und in dem er sehr moralisierend, belehrend und missionierend wirkt.
Auch wenn ich mich mit Tolstois Gedanken zu Ehe und Frauen nicht anfreunden kann, ist Die Kreutzersonate meiner Meinung nach ein Meisterwerk der Beobachtung und Beschreibung menschlicher Gefühle sowie ein überzeugendes Psychogramm einer Ehe. Tolstoi schildert hier mit der ihm eigenen Opulenz große Emotionen, ohne in Kitsch oder in Unglaubwürdigkeit abzugleiten. Und darin liegt meiner Meinung nach die große Stärke der Novelle: Dass der Leser hautnah an den Gefühlen eines ihm fremden Menschen teilhaben kann, wobei er – auch wenn er sich mit dieser Person eigentlich nicht identifizieren kann oder will – jeden Gedanken und jede Gefühlsregung nachvollziehen und miterleben kann.
Das Hörbuch wird von Hans Paetsch kongenial gelesen. Die in der Novelle geschilderten Emotionen werden von Paetsch überzeugend und mit Leidenschaft vorgetragen, so dass seine Interpretation meiner Meinung nach zur Brillanz der Novelle beiträgt.
Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Die Kreutzersonate. Übersetzt von Josef Hahn, Marianne Kegel, Marie Stelzig und Mila Stucken. Gelesen von Hans Paetsch. Membran, 2007; 19,80 Euro.
Dieser Post ist Teil des Zugfahrt-Monatsthemas im Oktober 2019.