„Ich wollte nicht, dass du wusstest, wer ich bin.“ (Seite 10)
Nach dem Buch über seinen Vater (Wer hat meinen Vater umgebracht), das ich sehr geliebt habe und das extrem sehr bewegt hat, hat Édouard Louis nun ein Buch über seine Mutter geschrieben.
In Die Freiheit einer Frau erzählt er von ihrer Herkunft, ihren Partnern, ihren Kindern, ihren geplatzten Träumen, ihren ungelebten Sehnsüchten – und vom Ausbruch aus ihrem beengten Leben und von neu errungener Freiheit.
Louis berichtet von einem Foto seiner Mutter, auf dem sie jung ist und ungewohnt frei und glücklich wirkt, resümiert, dass auch er Anteil an ihrem beschwerlichen Leben hat, erzählt von Lügen, Scham und Ausgrenzung.
Es ist ein ehrlicher und offener Blick auf sein Leben und auf seine Familie, und er ist dabei selbstkritisch, wirkt bisweilen aber auch arrogant, wenn er, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt und heute zu Frankreichs intellektueller Elite gehört, von seiner Scham spricht, die ihn viele Jahre begleitete, wenn es um seine Familie ging. Louis zeigt sich verletzlich, verletzend und menschlich – mir hat das sehr gut gefallen, er ist authentisch und beschönigt nichts, auch sich selbst nicht. Ich mag zudem seinen Schreibstil, seinen Blick auf sich und die Welt, seine Beobachtungsgabe.
Ich empfand das Buch als tragisch, aber auch voller Wärme und Liebe. Louis erzählt von einem ungelebten Leben, von einem Leben im Schatten eines gewalttätigen Mannes und von einer späten Kehrtwende.
Ich persönlich finde, Die Freiheit einer Frau hat nicht so viel Einschlagkraft wie Wer hat meinen Vater umgebracht, das mich so beeindruckt hatte, dass ich es direkt nach dem Lesen der letzten Zeile ein zweites Mal gelesen habe.
„Ich begriff nicht warum, aber ich hasste es, sie glücklich zu sehen, ich hasste dieses Lächeln auf ihren Lippen, die plötzliche Nostalgie, die Zufriedenheit.“ (Seite 20)
Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, 2021, 96 Seiten; 17 Euro.