Die Fassadendiebe von John Freeman Gill

„Denn sosehr wir auch beklagen mögen, was New York sich anzutun imstande ist, die verdammte Stadt schafft es doch stets, wieder neu zu erstehen. Sie gleicht einer Schlange, die wächst, indem sie sich vom Schwanz her selbst verschlingt.“ (Seite 456)

Alles verfällt! Die Stadt New York, in der nichts von Dauer ist, in der sich ständig alles wandelt. Das Queen Ann Brownstone in Manhattan, in dem der 13-jährige Ich-Erzähler Griffin mit seiner Mutter und seiner Schwester lebt, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Familie Griffins, die nach dem Weggang des Vaters immer mehr zerbröckelt, die Griffin immer weniger Halt gibt, in der jeder mit jedem Streit hat.

Als Griffin auf Wunsch seiner Mutter das alte Klohäuschen beim Brownstone abreißt, reagiert Griffins Vater anklagend und verzweifelt, denn er leidet unter dem permanenten Wandel New Yorks, an der Tatsache, dass Altes immer wieder Neuem Platz machen muss, dass Architekturschätze (und Klohäuschen) einfach so und für immer verschwinden.

Griffins Vater möchte seinem Sohn Respekt für alte Dinge beibringen, und so zeigt er ihm seine Werkstatt, wo er architektonische Skulpturen restauriert, und nimmt ihn schließlich mit auf seine Ausflüge durch die Stadt, bei denen er Fassaden stiehlt bzw. rettet und befreit (wie er es nennt).

Beim Lesen von Die Fassadendiebe ist New York von Anfang an vor meinem geistigen Auge erschienen, so dass mich John Freeman Gill mit seinem Debütroman in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzen konnte. Der Autor (und mit ihm der Ich-Erzähler Griffin) spricht mit Wehmut von seiner Heimatstadt New York und beschreibt die Straßen und Avenues dabei so stimmungsvoll, dass ich den Roman von der ersten Seite an ins Herz schloss, nicht mehr schlafen, sondern weiter mit Griffin durch New York streifen wollte.

Der Autor erzählt elequent und benutzt dabei Begriffe wie „wasserspeierig“ (Seite 22), „flechtbortengeränderte Uniformärmel“ (Seite 134) oder „Suppenküchenfreak“ (Seite 191), wodurch die Lektüre nicht nur unterhaltsam ist, sondern auch sprachlich anspruchsvoll und kreativ ist.

Der Leser kann aufgrund der genauen Beschreibungen von Handlungsorten und der Architektur mit den Protagonisten durch die Stadt wandeln und so nicht nur die Fassaden, sondern auch verschiedene Facetten New Yorks kennenlernen.

Bis zur Hälfte des Romans fand ich Die Fassadendiebe wundervoll, klug und atmosphärisch und habe mich gefragt, wieso dieses Buch so wenig Beachtung erfahren hat. Die zweite Hälfte hat mich jedoch nicht mehr ganz mitgerissen, hier gab es meiner Meinung nach zu viele Längen, die mich enttäuscht haben, nachdem mich Gills Liebeserklärung an die Stadt New York und an die Architektur anfangs so beeindrucken konnte.

John Freeman Gill: Die Fassadendiebe. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen. Berlin Verlag, 2017, 464 Seiten; 24 Euro.

Dieser Post ist Teil meines New York City-Monatsthemas im Juli 2022.

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