„Anfangs rief ich Gott um Hilfe – ich, der ich mein Lebtag mit meinem Atheismus geprahlt hatte. Doch angesichts der Allmacht der Militärpolizei konnte Gott nichts ausrichten! Ich fragte grollend: Wo ist Gott? Hof 1 ist der größte Beweis für die Nichtexistenz eines Wesens namens Gott!“ (Seite 42)
Der Protagonist des Romans stammt aus einer arabischen Familie christlich-katholischen Glaubens, hat sechs Jahre in Frankreich gelebt und an einer Pariser Filmhochschule studiert, doch dann beschließt er, in seine syrische Heimat zurückzukehren.
Am Flughafen in Damaskus wird er vom Geheimdienst empfangen, in ein Gebäude in der Nähe gebracht und gefoltert. Ihm wird vorgeworfen, der verbotenen Muslimbruderschaft anzugehören, und als er sich als Christ bzw. Atheist zu erkennen gibt, wird er in das berühmt-berüchtigte Wüstengefängnis bei Palmyra (Tadmor) gebracht, wo er die nächsten 13 Jahre seines Lebens verbringen wird.
Das Schneckenhaus ist ein Roman mit autobiografischen Zügen: Der syrische Autor Mustafa Khalifa, der heute in Frankreich lebt, war selbst ohne Anklage und ohne Prozess in verschiedenen syrischen Gefängnissen inhaftiert. Die meiste Zeit davon verbrachte er in Tadmor, und in seinem Roman verarbeitet er eigene Erfahrungen und Beobachtungen, aber auch Schilderungen von Mithäftlingen.
Das Resultat ist ein Buch, dass einem bisweilen den Boden unter den Füßen wegzieht. Das Schneckenhaus ist brutal und explizit, Khalifa erzählt en détail und mit schier unerträglicher Lebendigkeit und Authentizität von Foltermethoden und Entwürdigung, von Krankheiten und Tod, von Ausgrenzung und Isolation, aber auch von der zermürbenden Eintönigkeit zwischen den Grausamkeiten und von den Folgen der traumatischen Erlebnisse.
Wer es sich zutraut, über 300 Seiten hinweg in den ebenso tristen wie barbarischen Alltag in einem syrischen Gefängnis einzutauchen, dem empfehle ich Das Schneckenhaus sehr, denn hier bekommt man Einblicke, die man sonst kaum erhält – und von denen man sich oft wünscht, dass man sie nicht erfahren hätte.
Auch die Schilderungen der Zeit nach der Freilassung haben mich beeindruckt. Hier zeigt Khalifa auf eindringliche Weise, dass der Protagonist nicht mehr ins Leben und in den Alltag zurückfindet, dass er sich durch sein Trauma emotional tot fühlt, dass er seinen Tag nur noch mit Alkohol und Nikotin durchsteht, sonst aber wenig tut:
„Seit einem Jahr lebe ich in diesem Zustand. Ich weiß, daß meine Zurückgezogenheit, meine Absonderung, mein Meiden von Menschen ein ungesunder Zustand ist, aber ich habe absolut kein Bedürfnis und keinen Willen, dies zu ändern. Im Gegenteil, ich gerate in tödliche Panik, wenn in meinem Kopf die Vorstellung aufblitzt, wieder wie die anderen Menschen zu leben.“ (Seite 301)
Das Nachwort trägt sehr zum Verständnis des Romans bei und bettet die im Buch erzählten Geschehnisse in den geschichtlichen und politischen Kontext ein.
Das Gefängnis in Tadmor wurde 2015 übrigens vom „Islamischen Staat“ zerstört, zuvor jedoch gefilmt, so dass der Öffentlichkeit einige Aufnahmen dieses Ortes zur Verfügung stehen.
Mustafa Khalifa: Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs. Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Larissa Bender. Weidle Verlag, 2019, 312 Seiten; 23 Euro.
Dieser Post ist Teil des Levante-Monatsthemas im August 2019.