„Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollten? […] In jedem Fall ist dieser ‚Vorfall‘ etwas, das am französischen, ja, am europäischen Nationalstolz kratzt, weil er Abgründe des Menschen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist.“ (Seite 15)
Wir schreiben das Jahr 1816. Dreißig Seemeilen vor der Küste Westafrikas entdeckt die Besatzung der Brigg Argus ein seltsames Objekt im Wasser. Es handelt sich um ein Floß mit Schiffbrüchigen der Medusa, die auf dem Weg in den Senegal war, doch auf der Arguin-Sandbank gestrandet ist.
Nur 15 von ehemals 147 Menschen, die sich nach dem Unglück auf dem Floß befanden und damit 13 Tage lang durchs Meer trieben, überlebten, indem sie ihren Urin getrunken und Mitglieder der Besatzung gegessen haben:
„Skelette mit hervorstehenden Brustkörben, harfenförmigen Beckenknochen und fladenartigen, nur noch aus Hautlappen bestehenden Arschbacken. Ihr Haupthaar, starr vom Salz, glich alten Polstersesselfüllungen. Und die Augen? Düster verschleiert, wahnsinnig.“ (Seite 9)
Der Roman des österreichischen Autors Franzobel (eigentlich Franz Stefan Griebl) behandelt die Havarie der Fregatte Medusa am 2. Juli 1816 vor der westafrikanischen Küste und wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Mich persönlich lässt der Roman zwiegespalten zurück, denn vor allem den Einstieg in den Roman, die Sprache und den Erzählstil empfand ich als überaus gelungen, doch im Verlauf fand ich den Roman oft zu weitschweifig und regelrecht schwafelig, so dass ich das Buch stellenweise nur quergelesen habe.
Zu Beginn jedoch war ich fasziniert von Franzobels treffsicheren Beschreibungen, die mich vor Ort versetzt haben, die dem Roman so viel Leben einhauchen, dass man sich aufgrund der allzu brutalen Schilderungen bisweilen wünscht, er wäre weniger lebendig geraten.
Stilistisch ist Das Floß der Medusa meiner Meinung nach sehr ungewöhnlich, denn Franzobel bezieht sich bei seinen Beschreibungen der Vorgänge im 19. Jahrhundert immer wieder auf die Gegenwart, erwähnt Ereignisse, die sich erst im 20. oder 21. Jahrhundert zugetragen haben, Erfindungen, die erst deutlich nach 1816 entwickelt wurden. Dieser Anachronismus hat mir gut gefallen, weil der Leser zwar tief in die Geschehnisse im Jahre 1816 eintauchen kann, aber immer wieder in die Gegenwart katapultiert wird.
Die detaillierten Schilderungen des Alltags auf der Medusa und auf dem Floß sowie die exakten Beobachtungen der in die Geschichte involvierten Personen tragen dazu bei, dass das Schiffsunglück noch gespenstischer und unheimlicher wirkt, weil man die Umstände, die Handlungsorte und die Figuren genau kennenlernt und so die Katastrophe fast hautnah miterlebt.
Nichtsdestotrotz empfand ich den Roman über große Strecken hinweg als sehr weitschweifig erzählt und zäh lesbar. Das war vor allem direkt nach dem Schiffsunglück der Fall, also genau an einem Punkt, an dem ich extreme Spannung erwartet hatte.
Das Floß der Medusa ist ein Abenteuerroman im Stile der Klassiker, die ich schon als Kind mit Faszination und Begeisterung gelesen habe und die mir auch als Erwachsene gut gefallen. Obwohl der Roman Längen hat und mich nicht vollends überzeugen konnte, kann ich ihn für alle empfehlen, die starke Nerven haben und ein wenig Ekel (oder ein wenig mehr) gut aushalten können.
Franzobel: Das Floß der Medusa. Roman nach einer wahren Begebenheit. btb, 2019, 590 Seiten; 12 Euro.
Dieser Post ist Teil des Afrika-Monatsthemas (Länder M bis Z) im Juni 2019 (Senegal).
mE sind die vollkommen unnötigen und unmotivierten Vorgriffe des Erzählers auf die heutige Zeit (etwa sieht ein Offizier aus „wie Alain Delon“, die Matrosen fürchten sich vor Davy Jones aus Fluch der Karibik) eine der großen Schwächen des Buches. Wären die Anleihen an unsere Gegenwart wenigstens konsequent gesetzt, so ließe sich nach Gründen für diese Vorgehensweise fragen. Aber alle fünfzig Seiten mal eine einzelne Einstreuung lässt die Sache sowohl modernistisch bemüht als auch undurchdacht wirken. Effekthascherei.
Sonst stimme ich zu. An sich spannend zu lesen, aber für so eine Story überraschend langatmig…
Salut, gerade dieses Stilmittel hat mir gut gefallen und war meiner Meinung nach eines der besten Dinge im Roman. Spannend, wie unterschiedlich man das wahrnehmen kann. Aber ja, dass so eine Geschichte so langatmig sein kann, ist schon fast ein Kunststück…