„Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst. Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren.“ (Track 1)
Jahrzehntelang hat Didier Eribon Abstand gesucht: Abstand vom verhassten Vater. Abstand von der Gegend, in der er aufgewachsen ist. Abstand von der sozialen Schicht, aus der er ursprünglich stammt.
Nach der Krankheit und dem Tod seines Vaters kehrt Eribon zurück nach Reims, und mit der Rückkehr in die alte Heimat kommen die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, an seinen Vater und seine Mutter, an seine regelrechte Flucht nach Paris, an sein Coming-out, an die Scham, die ihn oft begleitete, wenn er an seine Familie, seine Herkunft, das Milieu seiner frühen Sozialisierung dachte.
Rückkehr nach Reims ist ein persönliches Bekenntnis, aber auch ein soziologischer, philosophischer, psychologischer, politischer Abriss des Lebens in Frankreich. Mich hat dieser Mix an Themen und Einflüssen begeistert, und beim Hören merkt man sehr gut, wie stark der Einfluss Eribons auf seinen Freund Édouard Louis ist, dessen Bücher ich sehr schätze und der sich mit ganz ähnlichen Themen beschäftigt.
Eribons Text fand ich somit schlichtweg wunderbar und lege diesen jedem ans Herz.
Weniger begeistert hat mich die Lesung von Thomas Ostermeier, dessen Interpretation von Rückkehr nach Reims auf mich eher gelangweilt wirkte. Für meine Ohren klang Ostermeiers Lesung bemüht relaxt und stellenweise etwas überheblich.
Rückkehr nach Reims selbst ist allerdings ein ganz besonderes, ein weises, ein sehr ehrliches und ein berührendes Buch.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Gelesen von Thomas Ostermeier. tacheles!, 2021; 18 Euro.