„Nie ist der Mensch dem ewigen Leben näher gekommen als durch Nortons Entdeckung. Und doch hat sich nie eine so wundervolle Verheißung derart rasch in Luft aufgelöst: ein Geheimnis aufgedeckt, ein Geheimnis verloren, alles innerhalb eines einzigen Jahrzehnts.“
Im Jahre 1995 wird der Immunologe und emeritierte Leiter des Center for Immunology and Virology an den National Institutes of Health in Bethesda wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch festgenommen.
Der nunmehr 71-jährige Perina wurde 1974 für die Erstbeschreibung des sogenannten Selene-Syndroms mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Dabei handelt es sich um eine (fiktive) Erkrankung, die mit einem verzögerten Alterungsprozess und einem verstärkten geistigen Verfall einhergeht und die Perina bei seinem Aufenthalt auf der Pazifikinsel Ivu‘ivu im mikronesischen Staat U‘ivu entdeckt hatte. Ausgelöst wird das Selene-Syndrom durch den Verzehr einer dort ansässigen, seltenen Schildkrötenart, die von den Bewohnern Ivu‘ivus, dem Volksstamm der Opa‘ivu‘eke, rituell verspeist wird.
Ronald Kubodera, ein langjähriger Mitarbeiter Perinas und einer der engsten Freunde des Wissenschaftlers, ist bedingungslos loyal gegenüber Perina und möchte dessen guten Ruf wiederherstellen. Aus diesem Grunde bittet er Perina, seine Memoiren auf Tonbänder zu sprechen, die er schließlich redigiert, kürzt, erläutert und niederschreibt. Kubodera und Perina gewähren dadurch Einblicke in Perinas Kindheit und Jugend, sein Elternhaus und sein Verhältnis zum Zwillingsbruder Owen, die anthropologische Expedition mit Paul Tallent nach U‘ivu, die Welt der Ureinwohner sowie Perinas Forschungstätigkeit und sein Leben in den USA.
Ich habe vor zwei Jahren mit großer Begeisterung Ein wenig Leben gelesen sowie als Hörbuch gehört und war dementsprechend gespannt auf Das Volk der Bäume, Hanya Yanagiharas Debütroman, an dem sie 18 Jahre lang gearbeitet hat, der in den USA nur wenig Erfolg hatte und der nun in deutscher Übersetzung bei Hanser Berlin erschienen ist. Ich habe die ungekürzte Lesung von Matthias Bundschuh (liest Ronald Kubodera), Gunter Schoß (liest Norton Perina), Thomas Hollaender (liest die Zeitungsartikel) und Joachim Schönfeld (liest den Auszug aus William Shakespeares Der Sturm) gehört.
Das Volk der Bäume basiert grob auf der wahren Geschichte von Daniel Carleton Gajdusek, der – genau wie Perina im Roman – ein US-amerikanischer Mediziner war, dem in den 1970er Jahren der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zuerkannt wurde, dessen Forschungstätigkeit ihn in die pazifische Inselwelt führte, der eine Vielzahl von Eingeborenenkindern adoptierte und der schließlich wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde.
Yanagihara beschreibt in Das Volk der Bäume ein moralisches Dilemma: Was ist der Mensch? Ist er böse, wenn er viel Gutes, aber auch Schlimmes getan hat? Ist er trotz seiner Verfehlungen gut, weil er die Menschheit weiter gebracht hat? Mir hat diese komplexe Sicht auf das Menschsein und auf moralisches Handeln gut gefallen, auch wenn der Roman letztendlich über weite Strecken hinweg ganz anders war, als ich das erwartet hatte, denn Yanagihara holt sehr weit aus, beschreibt Riten und Traditionen extrem detailreich, und bisweilen weist das Buch dadurch meiner Meinung nach Längen auf. Allerdings muss man der Autorin zugutehalten, dass die fiktive Welt, die sie kreiert hat, so realistisch und überzeugend wirkt, dass man ihren Schilderungen bedingungslos Glauben schenkt und meint, es könne sich alles genauso zugetragen haben.
Das Ende hat mir buchstäblich die Luft genommen und mich mit den zeitweilig etwas langatmigen Ausführungen versöhnt. Nach dem Fertighören kann ich sagen, dass der Roman hervorragend konstruiert wurde, den Leser so mehrfach überraschen kann, und ich das Buch eines Tages sicherlich ein zweites Mal lesen/hören werde.
Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Ungekürzte Lesung mit Matthias Bundschuh, Gunter Schoß, Thomas Hollaender und Joachim Schönfeld. Hörbuch Hamburg, 2019; 25 Euro.
Dir hat das Buch einen Ticken besser gefallen als mir. 🙂
Das Ende hat echt ne Wucht! Ich habe es dreimal gehört, weil ich wirklich sicher sein wollte, nichts falsch interpretiert zu haben. Es hatte mich überrascht, konnte mich über mache Länge leider nicht hinwegtrösten.
Die Autorin kann wirklich schreiben und den Aufbau fand ich auch fantastisch.
In einigen Rezis habe ich gelesen, dass sie es so schrecklich finden, wie die Autorin mit dem Buch manche Verbrechen legitimiert. Diese Lesart fand ich interessant! Denn ich konnte zu keiner Zeit feststellen, dass die Autorin alles schön redet. Sie berichtet einfach. Kommt halt immer darauf an, wer man ist, wo man herkommt und was man erlebt hat. Immer wieder spannend, gell!
GlG, monerl
Ich fand auch überhaupt nicht, dass H.Y. irgendetwas legitimiert, befürwortet oder verharmlost. Aber ich finde es auch spannend, wie verschiedene Leute das selbe Buch auf unterschiedliche Weise lesen und verstehen. Liebe Grüße an dich!