Wer hat meinen Vater umgebracht von Édouard Louis

„Sie sind einander räumlich nah, doch sie dringen nicht zueinander durch.“ (Seite 7)

Édouard Louis hat seinen Vater seit Jahren nicht gesehen, und als er ihn nach dieser langen Zeit besucht, erkennt er ihn kaum wieder: Er ist vorzeitig gealtert, hat Probleme beim Gehen und beim Atmen, leidet an Diabetes.

In Wer hat meinen Vater umgebracht erzählt Louis von seiner Kindheit und Jugend, von der schwierigen Interaktion zwischen ihm und seinem Vater, von der zur Schau getragenen Männlichkeit und der unterdrückten Emotionalität seines Vaters, von der Trennung seiner Eltern, vom Arbeitsunfall seines Vaters, in dessen Folge dieser wochenlang das Bett hüten musste und den Rest seines Lebens von chronischen Schmerzen geplagt wurde.

Was als persönlicher Bericht über das Leben von Vater und Sohn sowie die Beziehung zwischen den beiden begann, wird nach den Schilderungen des Arbeitsunfalls und den erwähnten Kürzungen der Sozialleistungen schließlich zur politischen Debatte, zur Streitschrift, zur Abrechnung mit der französischen Regierung.

Louis, dessen Vorgänger Das Ende von Eddy und Im Herzen der Gewalt ich kenne und sehr schätze, schreibt sprachlich anspruchsvoll und pointiert. Er sagt viel in wenigen Worten, und so zählt Wer hat meinen Vater umgebracht lediglich 77 Seiten, vermittelt jedoch eine tiefe, berührende und aufwühlende Botschaft, die mich das Buch nach dem Auslesen sofort nochmals lesen ließ.

Trotz der verschachtelten Sätze lässt sich auch Wer hat meinen Vater umgebracht schnell und flüssig lesen, da Louis einfache Worte wählt und den Leser regelrecht in sein Buch hineinzieht, indem er mit seinen Ausführungen bewegt und zum Nachdenken anregt. Er erzählt mit entwaffnender Offenheit und Ehrlichkeit von Enttäuschung, Hass und Ablehnung und mit großer Wut von der Politik seiner Heimat, doch auch voller Wärme, Liebe und Zuneigung von seinem Vater.

Wer hat meinen Vater umgebracht ist ein schmales Buch, das schnell gelesen ist, aber einen tiefen Eindruck hinterlässt. Mich hat Louis drittes Buch sehr berührt und sehr wütend gemacht, denn es ermöglicht es einerseits, die Beziehungsdynamik zwischen Vater und Sohn besser verstehen zu können, und andererseits lässt es begreifen, wie stark die „Kluft zwischen den Anzugträgern und den T-Shirt-Trägern, den Herrschenden und den Beherrschten, den Besitzenden und den Mittellosen, denen, die alles, und denen, die nichts haben“ (Seite 73) ist.

Louis ist meiner Meinung nach Frankreichs bester lebender Autor, ein bedeutender Intellektueller und ein scharfsinniger Beobachter der Gesellschaft und des Individuums. Lest nicht Michel Houellebecq, lest Édouard Louis!

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 2019, 77 Seiten; 16 Euro.

Dazu hab ich auch was zu sagen!