„In jener Nacht träumte José Arcadio Buendía, dass sich an ebendiesem Ort eine laute Stadt aus Häusern mit Spiegelwänden erhob. Er fragte, was für eine Stadt das sei, und man sagte ihm einen Namen, den er noch nie gehört, der keinerlei Bedeutung hatte, im Traum aber einen übernatürlichen Hall auslöste: Macondo.“
Nach dem Mord an Prudencio Aguilar werden José Arcadio Buendía und seine Frau Úrsula Iguarán immer wieder vom Geist des Toten heimgesucht. Bald ist klar, dass sie Prudencio und seinem traurigen Gesichtsausdruck nur entkommen können, indem sie Riohacha verlassen und ihr Glück an einem anderen Ort suchen. Und so brechen sie zusammen mit Freunden, deren Frauen und Kindern auf, um die Sierra zu durchqueren, und gründen schließlich mitten in den Sümpfen und dem kolumbianischen Urwald das Dorf Macondo.
Gabriel García Márquez erzählt in seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit, der 1967 in Buenos Aires erstveröffentlicht wurde und 1970 erstmals in Deutsch erschien, von der Gründung des Dorfes Macondo, von sieben Generationen der Familie Buendía und schließlich vom Niedergang Macondos. Dabei berichtet er nicht nur von Alchemie und Prophezeiungen, von Liebe und Liebschaften, von Krieg und Gewalt, von Tod und Sterben, sondern verwebt zudem historische Ereignisse in der Geschichte Kolumbiens/Lateinamerikas wie den Bau der Eisenbahn und den Einfluss der United Fruit Company mit seiner komplexen Geschichte um die Buendías und Macondo.
Ich habe Hundert Jahre Einsamkeit vor mehr als zehn Jahren zwei Mal mit großer Begeisterung in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason gelesen und habe das Buch seitdem zu meinen Lieblingsromanen gezählt. Nun war ich einerseits neugierig auf die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz und auf die Hörbuchfassung, andererseits aber auch darauf, ob mich der Roman noch genauso gefangen nimmt, wie er es vor vielen Jahren getan hat.
Um es kurz zu machen: Ja, der Roman hat mich erneut gefangen genommen und übte auch nach all den Jahren noch immer den alten Zauber auf mich aus, sobald ich mit Garcìa Márquez seine Romanwelt betreten habe.
Der Hörbuchfassung lässt sich – trotz der teilweise verworrenen Geschichte mit den sich immer wiederholenden Namen – sehr gut folgen, und die Neuübersetzung haucht dem Roman noch mehr Leben ein und beschreibt die Personen, die Orte und die Ereignisse noch pointierter, als es die alte Übersetzung getan hat, die ich im Übrigen auch gelungen fand. In den ersten Hörminuten habe ich parallel die alte Übersetzung gelesen, und die Änderungen sind nicht nur marginal, sondern bisweilen sehr umfassend, machen die Sprache aber etwas weniger antiquiert und noch eleganter. Auch die Lesung von Ulrich Noethen hat mir gut gefallen: Seine Aussprache, die Betonung und die Lesegeschwindigkeit sind gelungen, so dass man der Geschichte auch über mehrere Stunden hinweg gebannt lauschen kann, ohne mit den Gedanken abzuschweifen.
Bereits beim Hören des ersten Kapitels war ich wieder in Macondo und habe mich gefühlt, als hätte ich verlorengeglaubte Freunde wiedergesehen. Auch der weitere Verlauf des Romans hat mich begeistert, und ich habe mich gefreut, all die verschrobenen Figuren García Márquez‘ wiederzutreffen, ihren bizarren Geschichten zu folgen, all die magisch-realistischen Details wiederzuentdecken. Dabei ist die Fülle an Protagonisten auch bei meiner dritten Begegnung fast nicht zu bewältigen, zumal sich die Namen der Protagonisten immer und immer wieder wiederholen, so dass die Grenzen zwischen den Personen, zwischen den Zeiten und zwischen den Ereignissen verschwimmen. All dies macht die Lektüre nicht einfach, aber wahrlich magisch und literarisch so einzigartig. Dabei werden magische Ereignisse so nebensächlich von García Márquez erwähnt, dass sie allesamt realistisch und als ein Teil des normalen Erlebens und des Alltags der Menschen wirken.
Für Erstleser/-hörer der Geschichte empfehle ich dringend einen Stammbaum der Familie Buendía, den man sich im Internet herunterladen kann und der einem hilft, den vielen Namen, Generationen und Zusammenhängen folgen zu können.
Für mich ist Hundert Jahre Einsamkeit ein fulminanter Roman, der so komplex ist, dass man ihn immer wieder hören/lesen möchte, und der auch nach mehrmaliger Lektüre nie langatmig wird oder sich abnutzt, da man jedes Mal die Wiederbegegnung mit den Figuren genießt und zudem stets Neues entdeckt.
Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Gelesen von Ulrich Noethen. Hörbuch Hamburg, 2017; 21,95 Euro.
Dieser Post ist Teil des Themas „Magischer Realismus“ im August 2017.
Wenn ich einen absoluten Nummer-1-Lieblingsroman nennen sollte, dann wäre es dieser. Deine Besprechung hat bei mir großes Heimweh nach Macondo geweckt…
Oh, wie schön! Danke! Dann lies auf jeden Fall die Neuübersetzung. Viel Spaß bei der Reise nach Macondo!