„Das ist neben all dem Negativen, dem Schmerz und der Unterdrückung, die man auf solch einer Akutstation erleben kann, das charmante an diesen Orten: dass dort in ihren Krisen alle Menschen zusammenkommen, egal ob Malermeister, Arbeitslose oder Intellektueller, egal ob Psychotikerin, Schwerdepressiver oder Drogenabhängige, egal ob Jüdin, Christ oder Muslim.“ (Seite 13)
Über die Notaufnahme kommt Lea De Gregorio auf die Akutstation einer Berliner Psychiatrie. In Unter Verrückten sagt man du setzt sie sich mit ihrer eigenen Psychiatrieerfahrung auseinander, spricht mit Betroffenen und Behandlern, fragt sich: „Inwiefern sind wir Verrückten in unserer Gesellschaft bis heute eine unterdrückte Minderheit? Und welche Rolle spielt dabei die Psychiatrie?“ (Seite 15).
Sie berichtet in ihrem Buch u.a. von Erbe und Umwelt, Rassismus und Gewalt, Terminologie und Stigmatisierung, Psychoserisiko und Othering, Eigen- und Fremdgefährdung, Inquisition und Religiosität, Psychoanalyse und Psychopharmaka, Suizidalität und Tabu, „Euthanasie“ und Nationalsozialismus, Zwangssterilisierungen und „entarteter Kunst“, Hometreatment und Soteria, Weglaufhaus und Psychoseseminar, subjektivem Sinn einer Psychose und Offenem Dialog.
Ich bin selbst in der Psychiatrie tätig, arbeite im Bereich der Psychosenpsychotherapie und habe eine große Leidenschaft fürs Thema Psychose. Ich habe in den 1990ern sehr schlechte Erfahrungen mit psychiatrischer Behandlung gemacht und mache seit 5 Jahren extrem gute Erfahrungen mit dem Thema, was zeigt, dass (zumindest in mir bekannten Kliniken) endlich ein Wandel in der Psychiatrie einsetzt, auch wenn wir noch einen weiten Weg vor uns haben.
Das Buch bietet viele Denkanstöße, und obwohl ich mich schon intensiver mit Psychiatrie und Psychiatriekritik befasst habe, bin ich hier auf Neues gestoßen. De Gregorio spricht aber vor allem Themen an, mit denen ich mich bereits befasst habe, z.B. mit Werken von Stefan Weinmann, Thomas Bock, Asmus Finzen und Dorothea Buck. Ich bin allerdings nicht bei allen Themen mit der Autorin konform, z.B. was den laut De Gregorio eher dehnbaren Begriff zu Eigen- und Fremdgefährdung angeht, obwohl mir klar ist, dass dies von Psychiatrie zu Psychiatrie unterschiedlich gehandhabt werden kann. Es gibt aber auch sehr viele Themen, bei denen ich der Autorin zustimme, z.B. was Vorurteile angeht, was viele Behandler Psychoseerfahrenen zutrauen und was nicht, De Gregorios Gedanken zu Stigmatisierung.
Ich empfehle das Buch (und unbedingt die Bücher von Weinmann, Bock, Finzen und Buck) allen Personen, die sich mehr mit dem Thema Psychiatrie auseinandersetzen wollen.
Lea De Gregorio: Unter Verrückten sagt man du. Eine dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. Suhrkamp Verlag, 2024, 297 Seiten; 20 Euro.