„Es ist, als wäre ich schon nicht mehr da.“
Marceline Loridan-Ivens wird 1928 als Marceline Rozenberg geboren und im März 1944 zusammen mit ihrem Vater nach Polen deportiert. Sie selbst kommt nach Birkenau, er nach Auschwitz. Obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander getrennt sind, plagt sie „die unerträgliche Ungewissheit, was aus dem anderen wurde“. Doch eines Tages gelingt es Marcelines Vater, ihr einen Zettel überbringen zu lassen. Dies wird die letzte Nachricht von ihrem Vater sein, und Zeit ihres Lebens wird sie versuchen, diese Nachricht zu rekonstruieren, deren Inhalt sie sofort nach dem Lesen vergessen hat.
Marceline überlebt. Doch ihr Vater stirbt. Und als sie in ihre alte Heimat zurückkehrt, findet sie nicht in ihr altes Leben zurück, fühlt sich allein mit ihren Erinnerungen, von denen kaum jemand hören möchte. Und sie vermisst ihren Vater als den Vertrauten, den Wissenden, der ihre Erfahrungen geteilt hat und sie verstanden hätte, denn „wir hätten die Erinnerungen durch zwei teilen können“. Über allem steht für sie die Frage, warum gerade sie überlebt hat und wieso ihr Vater sterben musste: „Ich habe immer gemeint, dass es für die Familie besser gewesen wäre, wenn du zurückgekommen wärst und nicht ich. Sie brauchten einen Ehemann, einen Vater mehr als eine Schwester.“
Loridan-Ivens hat mit ihrem Buch ein Zeitdokument von großem Wert vorgelegt. Auf pointierte Weise erzählt sie ihre bewegende Geschichte, die sie 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz in Form eines Briefes an ihren Vater niederschreibt. Sie spricht von ihrem Leben vor und nach dem Überleben, von den verzweifelten Versuchen, sich an die letzte Nachricht ihres Vaters zu erinnern, und teilt mit ihm und dem Leser ihr jahrzehntelanges Unwissen, was ihm zugestoßen, wo er sein Leben verloren haben, wie es ihm ergangen sein könnte. So entsteht auf weniger als 110 Seiten eine komplexe Geschichte, die dem Leser einen realistischen Eindruck vom Lagerleben und von den Auswirkungen von traumatisierenden Erfahrungen vermittelt. Dabei erzählt Loridan-Ivens eindringlich, ehrlich und sprachlich anspruchsvoll von Tod und Überleben, Schuld und Hoffnung, dem Wunsch, die Zeit im Lager vergessen zu können, und dem Unvermögen, zurück in das alte Leben zu finden.
Auf der letzten Seite ihres Buches stellt sich Loridan-Ivens die Frage, ob sie gut daran tat, aus dem Lager zurückzukommen, und sie hofft, dass sich ihr Überleben gelohnt hat. Dem Leser stellt sich diese Frage nach der Lektüre sicherlich nicht, denn Und du bist nicht zurückgekommen ist unbestritten ein ebenso einzigartiger wie auch wichtiger Einblick in die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle einer Überlebenden des Holocaust.
Marceline Loridan-Ivens mit Judith Perrignon: Und du bist nicht zurückgekommen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Insel Verlag, 2017, 109 Seiten, 10 Euro.
Dieser Post ist Teil des Frauen-Monatsthemas im September 2018.
Danke für den Lesetipp!
Vor allem auch mit dem Hintergrund, dass die gute Frau erst verstorben ist 🙁
Immerhin ein solides Alter mit 90 Jahren!
Das stimmt, 90 ist ein solides Alter. Bin gespannt, wie du das Buch findest. Liebe Grüße an dich!
Da schnürt sich einem die Kehle zu, wenn man überlegt, was so ein Erlebnis mit einem Mädchen macht. Die Ungewissheit ist ja oft genug viel schlimmer als jede schlimme Tatsache, die man erfährt. Ich habe mir das Buch auf die Leseliste gesetzt, vielen Dank für den Lesetipp.
Liebe #litnetzwerk-Grüße
Gabi
Liebe Gabi,
ich habe wirklich schon sehr viel über die Shoa gelesen und finde, „Und du bist nicht zurückgekommen“ ist tatsächlich ein kleines Meisterwerk und so berührend, dass ich es wirklich voll und ganz empfehlen kann.
Liebe Grüße,
Romy
Ein ganz tolles, wichtiges Buch. Schön, dass du es nochmal vorgestellt hast.
Ich freue mich immer über Gelegenheiten, wenn ich besonders tolle Bücher mehrmals vorstellen kann :-).