Sprich mit mir von T.C. Boyle

„Es war, als hätte sich eine Tür, die ihr Leben lang verschlossen gewesen war, mit einem Mal geöffnet. Dieser kleine Kerl mit den redegewandten Fingern und aufmerksam blickenden Augen hatte nicht bloß einen Wunsch geäußert – nämlich dass er einen Cheeseburger wollte -, sondern war auch imstande, sich die Zukunft und einen Ort jenseits seiner unmittelbaren Umgebung vorzustellen, und das war etwas, das Tiere angeblich nicht konnten.“ (Seite 16)

Der Schimpanse Sam lebt bei Guy Schermerhorn, einem Wissenschaftler an der UCSM. Sam versteht und verwendet Gebärdensprache, tritt in Fernsehshows auf und verblüfft alle mit seiner Fähigkeit zur Kommunikation mit Menschen.

Die schüchterne Aimee, die Psychologie im Nebenfach studiert und keinerlei Erfahrung mit Primaten hat, bewirbt sich bei Schermerhorn als studentische Hilfskraft, nachdem sie den Professor und Sam im Fernsehen gesehen hat, denn sie möchte unbedingt mit Sam sprechen. Sam und sie haben sofort einen Draht zueinander, doch dann wird Sam an ein anderes Forschungsprojekt weitergereicht, und Aimee setzt alle Hebel in Bewegung, um Sam zu retten.

Sprich mit mir ist der 18. Roman von T.C. Boyle und das x-te Buch, das ich von dem US-amerikanischen Autor, der zu meinen Lieblingsschriftstellern gehört, gelesen habe.

Ich bin stets fasziniert davon, wie Boyle es schafft, sich immer wieder neuen Themen zu widmen, die er jedes Mal überzeugend umsetzt. Ich habe noch nie ein langatmiges Buch von Boyle gelesen, und auch Sprich mit mir ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein echtes Lesevergnügen, obwohl die Passagen über die in Gefangenschaft lebenden, gequälten Schimpansen wirklich unter die Haut gehen und teilweise schwer zu verdauen sind.

Boyles Geschichten sind oft an tatsächliche historische Personen bzw. Gegebenheiten angelehnt, zu denen er fiktive Elemente hinzufügt. Auch hier ist das der Fall: In den 1960er Jahren gelangte z.B. die Schimpansin Washoe zu Berühmtheit, die als erstes Tier Gebärden der Amerikanischen Gebärdensprache lernte.

Neben den Passagen, in denen Sam als Teil von Schermerhorns Affenprojekt Gebärdensprache lernt und Tag und Nacht Zeit mit Aimee verbringt, beschreibt Boyle abwechselnd auch die Zeit im nachfolgenden Forschungsprojekt. Dabei ist die Zeit bei Schermerhorn und Aimee von Wärme, Respekt und Liebe gekennzeichnet, die Zeit danach von Gewalt, Weggesperrtsein und Verhöhnung. Dieser Wechsel zwischen den beiden Projekten ist schwer aushaltbar, und diese Gegenüberstellung von Lebenswelten trägt viel zum Gelingen des Romans, zu seinem Zauber, aber auch zu seiner Emotionalität bei.

Sprich mit mir ist ein weiterer gelungener Roman des Autors: spannende Wendungen, die kaum vorhersehbar und dennoch überzeugend sind, ein packendes Thema, flüssig lesbar und trotzdem sprachlich anspruchsvoll, amüsant und tragisch zugleich.

T.C. Boyle: Sprich mit mir. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, 2021, 352 Seiten; 25 Euro.

Dazu hab ich auch was zu sagen!