„Er musste diese neue Information verarbeiten, was, wie er zugeben musste, nicht leicht war und immer schwerer wurde. Nichts war, wie es schien.“ (Seite 345)
Laut Klappentext nimmt uns T.C. Boyle in seinem neuen Band mit Stories mit „in unsere unheimliche Zukunft“, doch dies trifft lediglich auf einen Teil der Geschichten zu. Der Großteil der Stories könnte sich genauso gut vor unserer Haustür bzw. in der Gegenwart ereignen, obwohl die Stories bisweilen eine recht bizarre Note aufweisen, so wie man das von Boyles Geschichten gewohnt ist.
Der Leser kann hier z.B. von einem früheren Rockstar lesen, der allein in seinem Haus stirbt und von niemandem vermisst wird, erfährt vom Schicksal und dem Unwesen der ausgewilderten Tigerin Tara, begleitet den Schriftsteller Riley auf eine Zugfahrt, bei der er in eine äußerst brenzlige Situation gerät, beobachtet ein Paar, das in einer heruntergekommenen Bretterbude haust und dann die Gelegenheit bekommt, das Anwesen eines reichen Paaren zu hüten.
Boyle lässt uns aber durchaus in die Zukunft reisen, wo sich ein alleinerziehender Vater eine sogenannte Halcom X1520 Relive Box mit lebensechter Retina-Projektion anschafft, allnächtlich in Erinnerungen an vergangene Zeiten abtaucht und immer mehr den Bezug zur Realität verliert, oder wo Genmanipulationen an der Tagesordnung sind und das Leben der Menschen vorrangig und nachhaltig beeinflussen.
Alle Stories unterscheiden sich grundlegend voneinander, und Boyle zeigt in Sind wir nicht Menschen wieder einmal, dass er sich nicht wiederholt, dass er aus einem geradezu unendlichen Fundus an Ideen zu schöpfen scheint und keine einzige Geschichte an eine bereits gelesene erinnert.
Sind wir nicht Menschen beinhaltet 19 Stories, die allesamt messerscharf beobachtet und exzellent erzählt wurden, die mitreißen und den Leser packen, die berühren und bewegen, die bisweilen amüsieren und wunderbar grotesk sind.
Ich bin eigentlich keine Story-Leserin, aber großer Boyle-Fan, und seine Geschichten können mich stets aufs Neue begeistern, zumal es dem Autor perfekt gelingt, in der Kürze eine komplexe und plausible Geschichte zu erzählen.
T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Stories. Aus dem amerkanischen Englisch von Anette Grube und Dirk Gunsteren. Carl Hanser Verlag, 2020, 400 Seiten; 23 Euro.