„Das Leitmotiv der ärztlichen Profis sollte lauten: Wer ansetzt, muss auch wissen, wie er oder sie absetzt!“ (Seite 83)
„Langfristig plombieren die Neuroleptika die betreffende Person oftmals derart, dass sie von ihren eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Wünschen abgeschnitten ist und eigene Belastungsgrenzen, Ängste und Sehnsüchte nicht adäquat wahrnehmen kann.“ (Seite 27)
Jann E. Schlimme (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie), Thelke Scholz (Expertin durch Erfahrung) und Renate Seroka (Angehörige) bieten in ihrem Buch Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen Informationen zum Genesungsprozess und zu Psychopharmaka, benennen die Herausforderungen, denen man sich beim Reduzieren stellen muss, beschreiben detailliert den Reduktionsprozess, stellen bedeutungsdosierte Sozialräume und Abschalttechniken vor und gehen schließlich darauf ein, wie es nach dem Absetzen weitergeht bzw. warum man manchmal nicht vom letzten Krümel der Medikamente loskommt.
Den Autoren gelingt meiner Meinung nach ein Kunststück, denn das Buch ist für Profis, für Betroffene, für Angehörige und Freunde gleichermaßen geeignet, bietet jedem genau das richtige Maß an Informationen, leitet an, erklärt und erlaubt zudem Einblicke in pharmakologische Details, die so detailliert sind, dass Profis dazulernen, die aber auch so verständlich sind, dass Laien Zusammenhänge verstehen.
Besonders gelungen fand ich, wie hoffnungsvoll die Autoren davon schreiben, dass es möglich ist, ohne Psychopharmaka (oder lediglich mit einer Minimaldosis) zu leben, ohne dass sie dem Leser das Gefühl vermitteln, dass das Ganze problemlos durchführbar ist und keinerlei Gefahren birgt. Im Gegenteil: Die Autoren weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig ein langsames Vorgehen ist, wie schwer es ist, den letzten kleinen Krümel abzusetzen, dass eine große Gefahr für Rebound-Psychosen besteht, so dass die Betroffenen immer wieder dazu angehalten werden, auf sich und ihre Absetzsymptome zu achten und abhängig davon die Dosis zu reduzieren, vorerst beizubehalten oder gegebenenfalls wieder leicht zu erhöhen.
Das Buch erklärt sehr genau, wie reduziert und abgesetzt werden sollte, was man beachten muss, welche Symptome auftreten können, wie man auf Rebound-Psychosen reagiert, welche Strategien und Alternativen es gibt. Damit bietet es echte Hilfe beim Reduzieren sowie Hoffnung auf ein Leben ohne Antipsychotika und auf Genesung.
Ich habe beim Lesen sehr viel gelernt, nicht nur über den Reduktionsprozess an sich, sondern auch über alternative Behandlungsmöglichkeiten von Psychosen und das Neurotransmittersystem. Dabei ist das Buch bisweilen ein wenig repetitiv, was ich aber nicht als störend, sondern als sehr hilfreich empfunden habe, weil wichtige Inhalte so besser verinnerlicht werden können.
Ich empfehle Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen mit Nachdruck und hoffe, dass das Buch viele Leser findet. Ich selbst wünschte, es hätte ein solches Buch bereits vor 20 Jahren gegeben, denn dann hätte ich im persönlichen und im professionellen Umfeld viele Dinge anders beurteilt und anders empfohlen.
„Frei von Medikamenten zu sein dreht also nicht die Lebensgeschichte zurück […]. Andererseits ändert sich dennoch viel. Dies betrifft nicht nur den simplen Umstand, dass die tägliche Erinnerung an die Medikamenteneinnahme wegfällt. Vielmehr fällt auch die ständige Erinnerung an die eigene psychische Störung weg.“ (Seite 208)
Jann E. Schlimme, Thelke Scholz und Renate Seroka: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen. Psychiatrie Verlag, 2019, 282 Seiten; 25 Euro.