„Wir sind aus Ihrer Vorstellung ins richtige Leben hinausgetreten. Sie haben uns im Roman geschaffen. Sie haben sich die Details unseres Lebens ausgemalt und aufgeschrieben. An einem bestimmten Punkt der Zeichnung einer Persönlichkeit entsteht diese gewissermaßen wirklich. Sie verschiebt sich von der Vorstellungswelt in die reale Existenz.“
Der Ich-Erzähler des einleitenden Kapitels braucht Abstand von seiner Familie und zieht sich in sein Haus an der Küste zurück, um dort seinen neuen Roman zu beenden. Da bekommt er unerwarteten Besuch: Kâmil Gaafar und seine Schwester Sâliha, die vom Ich-Erzähler entworfenen Romanfiguren, stehen vor der Tür. Sie möchten den Schriftsteller davon überzeugen, dass sein aktueller Roman noch nicht gedruckt werden kann, da in diesem ihre Gefühle und Gedanken noch fehlen. Der Ich-Erzähler wirft sie aus seinem Haus, bereut aber später seine unfreundliche Art und fängt an, das veränderte Manuskript auf einer für ihn hinterlassenen CD zu lesen.
Der Roman des Ich-Erzählers bzw. das veränderte Manuskript spielt hauptsächlich zur Zeit des Königreichs Ägypten, auch (Neues) Ägyptisches Reich genannt, das von 1922 bis 1953 bestand. Der Leser erfährt dabei vom angesehenen Automobilclub in Kairo, der im Jahre 1924 offiziell eröffnet wurde, wo selbst der König ein- und ausgeht, wo der gefürchtete Kô, die rechte Hand des Königs, mit Willkür und Gewalt die Angestellten des Automobilclubs unterdrückt, wo sich eines Tages Menschen gegen die britische Besatzungsmacht und die Monarchie auflehnen, und wo der Leser die Familie Gaafar kennenlernt, deren Mitglieder eng mit dem Automobilclub verbunden sind.
Ich habe vor mehr als 15 Jahren sehr viele Romane des ägyptischen Literatur-Nobelpreisträgers Nagib Machfus gelesen und hatte mir von Der Automobilclub von Kairo eine (zumindest inhaltlich) ähnliche Lektüre erhofft, die mich nach Kairo versetzt. Und dies ist Alaa Al-Aswani tatsächlich gelungen, und sein Roman hat mir nicht nur schöne Lesestunden beschert, sondern er hat mir auch Lust darauf gemacht, Machfus‘ Kairo-Trilogie und seine anderen Romane erneut zu lesen.
Al-Aswani beschreibt seine Figuren und seine Schauplätze mit Detailverliebtheit und einer gewissen orientalischen Opulenz, die es ermöglicht, beim Lesen voll und ganz in seine Welt rund um den Automobilclub einzutauchen. Dabei entwirft er – typisch für die arabische Fabulierkunst – unterschiedliche Handlungsstränge, die ein komplexes Bild der ägyptischen Gesellschaft zeichnen. Alle diese Handlungsstränge, deren gemeinsamer Nenner der Club bzw. das Automobil an sich ist, empfand ich als hervorragend ausgearbeitet und spannend erzählt, so dass ich keine einzige der 650 Seiten langatmig oder zu weitschweifig fand.
Al-Aswanis Sprache ist anspruchsvoll, doch lässt sich der Roman trotz langer Sätze und der inhaltlichen Komplexität schnell und unterhaltsam lesen. Zu einem gewissen Teil ist dies sicher der ausgezeichneten Charakterisierung der Protagonisten geschuldet, die beim Lesen allesamt zu Leben erwachen – so ähnlich, wie es dem Ich-Erzähler im einführenden Kapitel passiert. Spannung erzeugt Al-Aswani zudem dadurch, dass man zwar von Anfang an den spannenden Erzählsträngen folgt, aber auf den ersten 200 Seiten nicht recht weiß, wohin die Geschichte treiben wird.
All dies macht Der Automobilclub von Kairo zu einem besonderen Roman, der lebendig und farbenprächtig ist, der historische Fakten vermittelt, der einen Einblick ins Leben in Ägypten ermöglicht und der zudem neugierig macht auf weitere Bücher Al-Aswanis, der hierzulande kaum bekannt ist, von dem jedoch bereits drei Romane und mehrere Erzählungen und Essays in deutscher Sprache erschienen sind.
Alaa Al-Aswani: Der Automobilclub von Kairo. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. S.Fischer, 2015, 655 Seiten; 24,99 Euro.
Dieser Post ist Teil des Ägypten-Monatsthemas im Mai 2022.