Bye Bye Lolita von Lea Ruckpaul

„Meine letzte Begegnung mit Humbert Humbert liegt einundzwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen ich versucht habe, Dolores zu sein. Aber ich kann Lolita nicht abschütteln. Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen, ich habe Humbert Humbert. Zu den Symptomen zählen Erbrechen, Depressionen, Taubheitsgefühle, Vergesslichkeit, Veränderung der Persönlichkeit.“ (Seite 11)

Dolores Haze ist 38 Jahre alt, und ihre Zeit mit Humbert Humbert liegt schon viele Jahre zurück, doch nach wie vor prägt er ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihren Umgang mit Nähe, ihre Sexualität.

Sie beginnt, ihre Geschichte aufzuschreiben und hofft, dass sie irgendwann an den Punkt kommt, an dem sie auch Humbert Humberts Aufzeichnungen lesen kann, die er in einem Taschenkalender niedergeschrieben hat, den sie seit Jahren mit sich herumträgt.

Vor mindestens 20 Jahren habe ich Lolita von Vladimir Nabokov mit großer Faszination gelesen, und als ich Bye Bye Lolita in einer Buchhandlung entdeckt habe, hat mich das Buch sofort neugierig gemacht. Und tatsächlich empfand ich die Lektüre als etwas ebenso Besonderes und Bereicherndes wie Schockierendes.

Mir hat dieser Roman extrem gut gefallen: Die Geschichte aus Lolitas Perspektive zu lesen und ihr weiteres Leben zu verfolgen, wirkte auf mich sehr authentisch (auch bzgl. meines Wissens als Psychologin über die Auswirkungen von (sexueller) Traumatisierung), ist oft knallhart, beschönigt nicht, ist dadurch stellenweise fast nicht aushaltbar.

Lea Ruckpaul erzählt hier sehr explizit von sexuellem und emotionalem Missbrauch, von Beschwichtigen, vom Wunsch nach Nähe und nach Abstand, von Schmerz und Lust, von Taubheit und Gewalt, von Schuld und Scham. Aus diesem Grunde empfehle ich das Buch nicht für sämtliche Leser, denn als Leser dieses Romans braucht man manchmal ein dickes Fell, und trotzdem gehen einem die Schilderungen nah, sind einem zu viel, bewegen, machen wütend. Und trotzdem (oder gerade deshalb) empfinde ich den Roman als sehr gelungen, denn er gibt Lolita eine Bühne, zeigt die Auswirkungen ihrer Traumatisierung, macht die Komplexität der Beziehung zu Humbert Humbert verstehbar.

Bye Bye Lolita hat mir zudem Lust darauf gemacht, Nabokovs Roman nochmals zu lesen. Ein Lieblingsbuch 2024.

Lea Ruckpaul: Bye Bye Lolita. Voland & Quist, 2024, 312 Seiten; 24 Euro.

Dazu hab ich auch was zu sagen!