„Ich möchte erzählen. Über echte Menschen und ihre Themen. Über meine eigenen, die sich immer wieder zwischen den Zeilen finden. Und ich möchte dieses Potpourri aus Geschichten, Emotionen, Gedanken, Haltungen und Verhalten stehen lassen und zum Aushalten ermutigen. Wenn es irgendetwas gibt, was dieses Buch lehren kann, ohne dass es diesen Anspruch oder das Ziel hat, dann ist es die Kunst, Dinge auszuhalten. Und ich persönlich kann mir aktuell kaum eine wichtigere Tugend vorstellen.“ (Seite 17)
Nesibe Kahraman erzählt in Alles, was dazwischenliegt von Ambiguitätstoleranz – der Fähigkeit, Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten, Ungewissheiten und Zwischentöne auszuhalten. Sie thematisiert unter anderem kognitive Verzerrungen und Projektion, kognitive Flexibilität und Anpassungsleistung, innere Spannungen und motivationale Diskordanz, Gerechte-Welt-Denken und Victim Blaming, Parentifizierung und Missbrauch, Gruppendenken und Massenpsychologie, Vexierbilder und Wahrheit.
Von Kahraman, ehemals Özdemir, habe ich bereits Was wir glauben, wer wir sind gelesen, das ich ganz wundervoll fand und schon oft empfohlen habe.
Ich empfand Alles, was dazwischenliegt anfangs als ganz anders als Kahramans erstes Buch, so dass ich mich erst einmal etwas umstellen musste, was meine Erwartungen anging. Das Buch transportiert viel psychologisches Wissen, verbindet dies mit philosophischen und politischen Aspekten, zieht Parallelen zu Psychotherapie und zu Fallgeschichten. Mir hat diese Mischung extrem gut gefallen, und das Buch hat mir viele wichtige Impulse gegeben – nicht nur für meine psychotherapeutische Tätigkeit, sondern auch für mich als Privatperson, denn die von Kahraman angeschnittenen Themen wie Intoleranz, Schwarz-Weiß-Denken und Ambiguitätstoleranz finde ich nicht nur spannend, sondern vor allem sehr relevant.
Im Verlauf der Lektüre hat mir das Buch immer besser gefallen, und ich wünsche ihm viele Leser. Und weil ich das Buch so gelungen und Augen öffnend fand, habe ich danach gleich noch das Hörbuch gehört. Dies wird von Ulrike Kapfer auf ebenso angenehme wie fesselnde Weise gelesen, so dass ich hier lange zuhören konnte und perfekt unterhalten wurde.
„Der Weg zur Ambiguitätstoleranz beginnt mit der Anerkennung, dass die Welt komplex ist und nicht immer klare Antworten bietet. Das bedeutet aber auch, ihre Grenzen zu akzeptieren. So sehr wir unsere persönliche Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz auch stärken und so viele Vorteile das auch mit sich bringen mag, so ist diese Fähigkeit keinesfalls die Lösung aller zwischenmenschlichen oder gesamtgesellschaftlichen Probleme. Sie ist allerdings ein guter Berater bei der Erkundung der Lösungsmöglichkeiten.“ (Seite 230)
Nesibe Kahraman: Alles, was dazwischenliegt. Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Beltz, 2024, 236 Seiten; 22 Euro.
Nesibe Kahraman: Alles, was dazwischenliegt. Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Ungekürzte Lesung von Ulrike Kapfer. Argon, 2024; 20,95 Euro.