„Auch wenn man als Frau anscheinend immer damit rechnen muss und es das Schlimmste zu sein scheint, was passieren kann, ist es doch nichts, was wirklich geschieht. […] Vergewaltigung passiert anderen Leuten.“ (Seite 60)
Sommer in Leipzig: Anna ist gerade mit ihrem Studium fertig geworden und jobbt in einer Kneipe. Sie trinkt viel, sie macht die Nächte durch, und sie lernt über ihren besten Freund Hannes Jonas kennen.
Anna und Jonas treffen sich – nachdem sie eine Weile zuvor Sex miteinander hatten, sich dann aber wieder voneinander entfernt haben – auf einer Party wieder, auf der beide sehr betrunken sind. Was in dieser Nacht zwischen Anna und Jonas passiert, ist für ihn einvernehmlicher Sex, für sie eine Vergewaltigung, die sie zwei Monate später zur Anzeige bringt.
nichts, was uns passiert ist der Debütroman von Bettina Wilpert und behandelt ein brisantes Thema. Dabei bestechen meiner Meinung nach vor allem das gewählte Thema an sich und die Komplexität, mit der sich die Autorin dem Thema widmet, weniger die Sprache des Romans, die ich persönlich oft etwas zu einfach, beinahe unbeholfen fand. Vor allem die vielen Satzanfänge mit „dass“ empfand ich als störend und stockend lesbar, auch wenn dies generell zum Erzählstil passt.
Wilpert erzählt ihre Geschichte aus Annas und aus Jonas‘ Perspektive, so dass man sich in die Gedanken, Gefühle und Interpretationen der beiden Personen hineinversetzen kann, wodurch die Grenzen zwischen Opfer und Täter, Schuld und Unschuld verwischen. Wilpert zeigt die Komplexität der Situation, indem man sich in beide Parteien eindenken und einfühlen, mit beiden Standpunkten sympathisieren, sowohl bei Anna als auch bei Jonas jedoch auch bestimmte Verhaltensweisen, Aktionen und Reaktionen ablehnen kann. Über all dem steht die Frage, wo man die Linie zwischen einer Vergewaltigung und einvernehmlichem Sex zieht, wer hier Opfer und wer Täter ist.
Wilpert lässt in ihrem Roman auch Freunde, Mitbewohner etc. zu Wort kommen, wodurch nichts, was uns passiert bisweilen wie eine Gerichtsverhandlung mit den Aussagen verschiedener Zeugen wirkt. Dabei werden auch die Folgen des Ereignisses für Anna und Jonas thematisiert, Argumente geboten, Vorurteile angesprochen, Verhaltensänderungen im Umfeld aufgezeigt. All diese Aspekte besitzen eine gewisse Universalität, so dass nichts, was uns passiert nicht nur ein spannender und komplexer Roman ist, sondern auch allgemeine Einblicke in die Themen sexuelle Gewalt und Vergewaltigung bietet.
Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert. Verbrecher Verlag, 2018, 168 Seiten; 19 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Monatsthemas „Sex und Gewalt“ im Dezember 2020.