„Na gut“, sagte sie. „Schreib, wenn du unbedingt willst, schreibt über Gigliola oder sonst wen. Aber nicht über mich, wag es ja nicht, versprich es mir.“
„Ich werde über niemanden schreiben, auch über dich nicht.“
„Vorsicht, ich behalte dich im Auge. […] Ich komme und durchforste deinen Computer, ich lese deine Dateien und lösche sie.“
[…]
„Du glaubst, ich kann das nicht?“
„Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich weiß mich zu schützen.“
Sie lachte auf ihre alte, boshafte Art.
„Nicht vor mir.“
Der dritte Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante beginnt mit einer kurzen Rückkehr in die Rahmenhandlung: Elena hat ihre Freundin Lila zuletzt im Jahre 2005 gesehen, also fünf Jahre vor dem Verschwinden Lilas, das Elena dazu bringt, die Geschichte ihrer jahrzehntelangen Freundschaft aufzuschreiben. Der Leser erfährt durch diese Rückblende, dass im Laufe der Jahre „zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches“ passiert ist, so dass sich die beiden Freundinnen immer weiter voneinander entfremdet und ihr Vertrauen zueinander verloren haben. Durch die Rückblende wird viel Spannung aufgebaut, denn der Leser wird dadurch darauf vorbereitet, dass sich die Geschichte im nächsten Band noch dramatischer gestalten wird und weitere packende Wendungen und Ereignisse auf den Leser warten.
Der weitere Verlauf des Romans schließt nahtlos an die Ereignisse am Ende des zweiten Bandes an, als Nino Sarratore bei Elenas Buchvorstellung auftaucht. Elena hat viel erreicht: Sie hat in Pisa an einer Eliteuniversität studiert, einen Roman veröffentlicht und ist mit dem gebildeten und wohlhabenden Pietro Airota liiert. Doch immer wieder wird ihr (und dem Leser) bewusst, dass sie zwar dem Rione, in dem sie mit Lila aufgewachsen ist, räumlich entflohen ist, dass ihre Vergangenheit sie aber immer wieder einholt: Sie fühlt sich unzulänglich, unterlegen, wird von Selbstzweifeln geplagt. Sie ist in sich zerrissen, gehört aufgrund ihrer Bildung nicht mehr in den Rione, passt aufgrund ihrer Herkunft jedoch auch nicht in die Welt der Airota-Familie, nicht zu den Privilegierten und Intellektuellen.
Lila konnte durch ihre Ehe mit Stefano Carracci zwar kurzzeitig der Armut des Rione entfliehen, hat durch ihn aber die selbe Gewalt erfahren wie die anderen Frauen im Rione. Nach ihrer gescheiterten Ehe mit Stefano lebt sie nun zusammen mit ihrem Sohn Gennaro und ihrem Kindheitsfreund Enzo Scanno in einer ärmlichen Wohnung und arbeitet in einer Wurstfabrik.
Im Verlauf zeigt sich sehr eindrucksvoll, wie Elena und Lila sich zwar weiterentwickelt haben und dass sich ihr Leben in unterschiedliche Richtungen bewegt hat, dass die beiden aber nach wie vor durch ihre Herkunft vereint sind, der sie beide nicht entkommen können, was einer der Gründe dafür sein mag, warum die beiden so unähnlichen Frauen trotz der räumlichen Entfernung und trotz des Konkurrenzkampfes zwischen ihnen nach wie vor befreundet sind.
Trotz der zwischen ihnen bestehenden Distanz nimmt Lila Elena eines Tages ein Versprechen ab:
„Falls mir was zustößt, falls ich ins Krankenhaus muss, falls sie mich ins Irrenhaus stecken, falls ich verschwinde, musst du Gennaro nehmen, du musst ihn zu dir nehmen, er muss bei dir aufwachsen.“
Die beiden Frauen verbringen in der Folge wieder mehr Zeit miteinander, und langsam wächst das Vertrauen zwischen den beiden Freundinnen. Doch dann kommt es erneut zu einem Bruch.
Der dritte Band der Neapolitanischen Saga liest sich genauso flüssig wie die ersten zwei Bände und ist ebenso anspruchsvoll wie unterhaltsam.
Neben der Geschichte um Elenas Karriere, ihren Ehrgeiz und ihre Versagensängste, um Lilas Leben, die trotz ihrer Talente und ihrer Intelligenz die Schule abgebrochen hat und nun in einer Wurstfabrik schuftet, sowie um die Freundschaft zwischen Elena und Lila, die von Konkurrenz und Entzweiung, aber auch von Vertrauen und großer Nähe gekennzeichnet ist, bietet Ferrante in Die Geschichte der getrennten Wege außerdem detaillierte Einblicke in die politische Situation im Italien der 1960er und 1970er Jahre. Der Leser erfährt von den Konflikten zwischen den Kommunisten und den Faschisten sowie von der nach wie vor dominierenden Macht der Camorra, die auch den Rione fest in ihrer Gewalt hat.
All diese Aspekte verwebt Ferrante zu einer komplexen Geschichte, die auf jeder Erzähl- und Inhaltsebene überzeugt und fesselt. Ferrante versteht es dabei hervorragend, Spannung zu erzeugen, Emotionen zu schildern und den Leser so an ihre Saga zu binden.
Nach dem Lesen des Romans habe ich zudem das ungekürzte Hörbuch zu Die Geschichte der getrennten Wege gehört, das wie Meine geniale Freundin und Die Geschichte eines neuen Namens von Eva Mattes gelesen wird. Mattes liest auch den dritten Band der Saga mit passender Intonation und in perfektem Tempo. Ich persönlich halte Mattes für die perfekte Sprecherwahl, denn ihre Stimme ist so angenehm, dass man ihr gerne lauscht, und sie haucht der ohnehin fesselnden und faszinierenden Geschichte um Lila und Elena zusätzlich Leben ein.
Der dritte Band endet – wie die vorherigen Bände – mit einem Paukenschlag, so dass man bereits beim Zuschlagen von Die Geschichte der getrennten Wege sehnsüchtig auf Die Geschichte des verlorenen Kindes, den vierten und letzten Band der Saga, wartet, der im Februar 2018 erscheinen soll.
Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, 2017, 540 Seiten; 24 Euro.
Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Gelesen von Eva Mattes. der Hörverlag, 2017; 24,99 Euro.
Hier geht es zu meinen Rezensionen zu Meine geniale Freundin und zu Die Geschichte eines neuen Namens.
Du bist ja flink ;). Ich freue mich noch drauf. Viele Grüße!
Man könnte mich auch „rastlos“, „obsessiv“, „verfallen“ nennen :-).