„Ich glaube, irgendwo in Osteuropa, entlang eines Bahndammes, an einem Waldrand voller blühender Bäume vollzog sich eine erstaunliche Metamorphose. Hier wurden die Menschen der plombierten Höllenzüge zu Tieren. So wie alle anderen, die Hunderttausenden, die der Wahnsinn aus fünfzehn Ländern in die Todesfabriken und Gaskammern spie.
Das war der Moment, in dem uns zum ersten Mal unsere aufrechte Haltung genommen wurde.“ (Seite 16f)
Im Jahre 1944 wurde der ungarische Journalist József Debreczeni (Pseudonym von József Bruner) nach Auschwitz und schließlich in weitere Konzentrationslager deportiert. Die letzte Station vor der Befreiung war die Krankenbaracke des Zwangsarbeitslagers Dörnhau, das sogenannte „kalte Krematorium“.
Debreczeni erzählt von Transport und Selektion, von Lagerhierarchie und dem täglichen Kampf ums Überleben, von Entmenschlichung, von Tod und Sterben, von Qualen und Appell, von Krankheiten und Parasiten. Er berichtet aber auch von Solidarität, von Unterstützung und von der Befreiung der Konzentrationslager.
Ich interessiere mich schon sehr lange für die Shoa und den Nationalsozialismus, und das bisher beste Buch, das ich zum Thema gelesen habe, war und ist Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész.
Schon auf den ersten Seiten von Kaltes Krematorium beschwört Debreczeni eine düstere und unheimliche Atmosphäre herauf, die einerseits die Entmenschlichung und die Entwürdigung zeigt, andererseits deutlich macht, wie schnell sich das Leben für Debreczeni verändert hat – und für uns alle verändern kann.
Beim Lesen merkt man sehr schnell und sehr deutlich, dass Debreczeni Journalist war, denn er schreibt auf sehr lebendige Weise, so dass man beim Lesen all das Grauen vor Augen hat, was schwer aushaltbar und gleichzeitig notwendig ist, um das Schicksal und Leiden (halbwegs) vorstellbar zu machen.
Debreczeni erzählt präzise und in anspruchsvoller Sprache, verwendet überzeugende und passende Vergleiche, lässt nichts Wichtiges aus und fügt seinen Berichten nichts Unwichtiges hinzu. Hier ist alles stimmig, und genau diese Stimmigkeit macht die Lektüre ebenso lohnend wie gespenstisch.
„Ganz gleich, wie viel historisches Wissen schon vorhanden ist, ganz gleich, wie viele Texte von Überlebenden, wie viele Dokumente, Filme, Zeugnisse man schon kennt, dieses Menschheitsverbrechen ist und bleibt ungeheuerlich. Daran lässt sich nicht gewöhnen. Das wird nie normal. Das lässt in seiner Abscheulichkeit nicht nach.“ (Seite 253, Nachwort von Carolin Emcke)
József Debreczeni: Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke. S. Fischer, 2024, 272 Seiten; 25 Euro.