„Die Betroffenen reden, machen öffentlich, legen den Finger in die Wunde, klagen an. Und was tut sich auf? Der Abgrund eines unethischen, brutalen und menschenverachtenden Systems, das im Nationalsozialismus entwickelt worden war und auch nach 1945 seine Fortsetzung fand, jahrzehntelang. Die Opfer waren Kinder, viele von ihnen nicht einmal fünf Jahre alt.“ (Seite 8)
Der Bericht einer jungen Frau, die Anja Röhl erzählt, dass man ihr im Kindergarten die Augen mit Leukoplast zugeklebt hat, damit sie Mittagsschlaf hielt, weckt bei der Autorin eigene Erinnerungen an ihre Kindheit und führt schließlich dazu, dass ihr 250 Leute schreiben, denen Ähnliches und Schlimmeres passiert ist.
In Das Elend der Verschickungskinder erzählt Röhl von Kindern, die in verschiedenen Kindererholungsheimen Schreckliches erlebt haben, und bietet so eine Auswahl aus den vielen Schilderungen, die sie erreicht haben.
Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen, das Buch behandelt Kindererholungsheime in der Bundesrepublik. Aber auch in der DDR war ich so gut wie nie im Ferienlager, abgesehen von einem 4-wöchigen Aufenthalt in der Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“, an die ich allerdings nur die allerschönsten Erinnerungen habe.
Die im Buch erwähnten Geschichten sind wirklich fürchterlich, und beim Lesen möchte man gar nicht glauben, dass die Kinder solche Erfahrungen machen mussten, so viel Gewalt und Erniedrigung erlebt haben. Die schiere Masse an berichteten Erlebnissen spricht jedoch eine andere Sprache, und so ist das Buch nicht nur ein Psychogramm von Erziehern, Nonnen etc., sondern auch ein wichtiges Zeitdokument, das Einblicke in eine Thematik bietet, mit der ich mich bis dato noch nicht auseinandergesetzt hatte.
Die Geschichten im Buch sind recht detailliert erzählt, und wenn man auch nur einen Hauch von Empathie in sich trägt und sich in diese Kinder hineinversetzt, wird einem beim Lesen ganz anders. Vor allem die Erfahrungsberichte der Kinder selbst fand ich sehr gelungen (und erschütternd), die Fakten zu den einzelnen Heimen und weiterführende Informationen (Empirie, Ursachen) habe ich lediglich quergelesen.
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial-Verlag, 2021, 320 Seiten; 29,90 Euro.