„[…] niemand kehrt als der zurück, der er einst war, wenn er in einen Brunnen hinabgestiegen ist.“ (Seite 8)
Der Vater der Ich-Erzählerin ist tot: Er liegt abgemagert, in Feinrippunterhemd und Jogginghose in einem Loch im Keller seines eigenen Hauses.
Bereits als Kind hat die Ich-Erzählerin damit begonnen, ein dreieinhalb Meter tiefes Loch zu graben, das sie einen Brunnen nennt, auch wenn dieser nie Wasser enthielt.
Zwanzig Jahre lang fristete der Vater sein Dasein auf dem Grund des Lochs, zwanzig Jahre lang wurde er von seiner Tochter über einen Flaschenzug mit Essen versorgt und am Leben gehalten.
Sylvia Wage, deren Roman Grund 2020 der Gewinner des Blogbuster-Preises war, erzählt in ihrem Debüt von Gewalt und Tyrannei, von Rache und Vergebung, von Lüge und Wahrheit.
Wages Ich-Erzählerin ist es gewohnt zu lügen. Sie belügt ihre Psychotherapeutin, ihre Eltern, ihre Schwestern – und möglicherweise belügt sie auch die Leser des Romans, denn so genau kann man beim Lesen nicht sagen, was nun Trug und was Realität ist.
Mich hat der Roman beeindruckt. Er erzählt auf sprachlich virtuose Weise von einer Geschichte, die man kaum glauben möchte, die trotzdem authentisch wirkt, auch wenn man gar nicht so genau weiß, ob sich alles so zugetragen hat, wie es die Protagonistin erzählt.
Wage erzählt in Grund von einer schwierigen Kindheit mit einer alkoholabhängigen Mutter, einem strengen und gewalttätigen Vater, von Geschwisterrivalität, von emotionaler Vernachlässigung und von den Folgen dieser Kindheitserfahrungen, die sich bis ins Erwachsenenalter ziehen.
In diesem Roman stimmt wirklich alles: vom grandiosen Plot und der anspruchsvollen Sprache, bei der kein Wort zu viel ist, über den mehrdeutigen Titel und die stimmige Cover-Gestaltung bis zum Verwirrspiel um Lüge und Wahrheit.
Grund ist eines meiner Lieblingsbücher 2021 und meiner Meinung nach vollkommen verdient der Gewinner des Blogbuster-Preises 2020.
Sylvia Wage: Grund. Eichborn, 2021, 176 Seiten; 20 Euro.