„Jede bittere Wendung meines Lebens fand im Frühling statt. Jeder schwere Schlag. Das ist der Grund, warum mich das helle Grün der Bäume, die ersten Pfirsiche auf dem Markt betrüben, genauso wie die ausgestellten Röcke, die die Frauen in meinem Viertel zu tragen beginnen. Mich erinnert all das nur an Verlust, Verrat, Enttäuschung. Ich kann es nicht leiden, zu erwachen und unausweichlich nach vorne getrieben zu werden.“ (Seite 17)
Die namenlose Ich-Erzählerin lebt in einer namenlosen italienischen Stadt. Ihr Leben ist geprägt von Routinen: immergleiche Wege, die sie läuft, immergleiche Restaurants, die sie besucht und wo sie die immergleichen Menschen beobachtet. Sie lebt ein Leben ohne viele Höhen und Tiefen, sie hat sich mit ihrem Alleinsein größtenteils arrangiert, aber leidet auch unter ihrem Einzelgängertum.
Ich lese viel seltener Autorinnen als Autoren, aber Jhumpa Lahiri steht ganz oben auf der Liste meiner Lieblingsschriftsteller, so dass ich alles von ihr gelesen habe, das auf Deutsch veröffentlicht wurde, und dass ich jedem neuen Buch von ihr entgegenfiebere.
Ich empfand Wo ich mich finde als ganz anders als die früheren Romane und Erzählungen der US-amerikanischen Autorin indischer Abstammung – zum einen wegen des Handlungsortes Italien statt USA und Indien, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass es keine echte Handlung gibt.
Statt eines handlungsreichen Plots präsentiert uns Lahiri die Geschichte eines Lebens mit Sehnsüchten und Verlusten, Leidenschaften und Routinen, indem sie episodenhaft von Begegnungen und Beobachtungen erzählt. Viel passiert dabei nicht, der Fokus liegt eher auf den alltäglichen Momenten, auf dem Blick der Protagonistin auf ihre Umgebung, auf ihren Umgang mit anderen.
Wo ich mich finde liest sich aufgrund der Kürze des Romans, der knappen Kapitel und der klaren Sprache schnell, ist sprachlich aber genauso anspruchsvoll, wie man das von Lahiri kennt und erwartet.
Mich hat der Roman sehr oft an Elena Ferrante erinnert – wegen des Handlungsortes und des Fokus‘ auf die Sicht einer Frau, aber auch sprachlich und stilistisch. Alles in allem hat mir Wo ich mich finde gut gefallen, aber ganz übergesprungen ist der Funke dennoch nicht, und ich muss sagen, dass ich zu früheren Werken Lahiris besser Zugang gefunden habe.
Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Aus dem Italienischen von Margit Knapp. Rowohlt, 2020, 160 Seiten; 20 Euro.