„Es ist der siebzehnte Tag ohne Schlaf.“ (Seite 5)
Die Ich-Erzählerin kennt Zeiten der Schlaflosigkeit, aber ihr aktuelles Nicht-schlafen-Können ist ganz anders als die Schlaflosigkeit, die sie früher plagte, die ihren Tag unaushaltbar machte, die sie belastete und sie in ihrem Alltag massiv einschränkte, da sie nie richtig wach und ausgeruht war.
Diesmal ist ihre Schlaflosigkeit ein Segen, denn die Ich-Erzählerin nutzt die neugewonnenen Stunden zum Lesen, wofür sie schon so lange keine Ruhe und keine Konzentration übrig hatte. Nun wird die alte Leidenschaft erneut entflammt, und die Ich-Erzählerin genießt die Nächte mit Romanen von Tolstoi und Dostojewski, fühlt sich vital, voller Energie und hellwach.
Fast wird man beim Lesen neidisch, dass die Protagonistin Tag und Nacht lesen kann, nicht mehr schlafen muss und so viel Zeit zur Verfügung hat. Dabei gelingt es Haruki Murakami aufs Neue, die Grenze zwischen Realität und Fiktion zu verwischen, denn die Erzählung beginnt mit einer alltäglichen Situation, doch der Leser betritt bald eine magische Welt, in der sonderbare Dinge geschehen, die jedoch nichtsdestotrotz realistisch und plausibel erscheinen.
Neben der eigentlichen Geschichte um die willkommene Schlaflosigkeit beschreibt Murakami die körperlichen und psychologischen Auswirkungen von zermürbender Schlaflosigkeit, in die sich jeder hineinversetzen kann, der jemals auch nur eine einzige Nacht mit dem verzweifelten Versuch verbracht hat, endlich einschlafen zu können.
Das Ende der Erzählung ließ mich zuerst ein wenig ratlos zurück, was nicht ganz untypisch für Murakami ist und so zum Nachdenken anregt, so dass die knappe Geschichte dem Leser noch länger im Gedächtnis bleibt und in ihm nachhallt.
Kat Menschiks Illustrationen – hier in Dunkelblau, Weiß und Silber gehalten – sind von gewohnter Qualität und wirklich wunderschön. Sie veranschaulichen und ergänzen den Inhalt der Erzählung auf perfekte Weise.
Haruki Murakami: Schlaf. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Mit Illustrationen von Kat Menschik. DuMont Buchverlag, 2010, 78 Seiten; 9,99 Euro.
Dieser Post ist Teil des Japan-Themas im April 2018.