Ich werde leben von Lale Gül

„Sie dürfen nicht wissen, was sie wissen, nicht fühlen, was sie fühlen, nicht begehren, was sie begehren, nicht sein, was sie sind.“ (Seite 7)

Büsra hat türkische Wurzeln und lebt bei ihrer Großmutter in Amsterdam. Sie lebt ein Doppelleben zwischen den Ansprüchen, die ihre strengen, ultrakonservativen, religiösen Eltern an sie stellen, und den Vorstellungen, die sie selbst von ihrem Leben hat.

Büsra studiert, hat einen offiziellen Nebenjob, arbeitet zusätzlich heimlich in einem Restaurant und unterhält seit Jahren eine Beziehung zu einem jungen Mann, von dem ihre Familie nichts weiß und nichts wissen darf.

Lale Gül erzählt in ihrem autobiografischen Roman von Islam und Traditionen, vom Aufwachsen zwischen zwei Kulturen, von Zerrissenheit, vom Wunsch nach Normalität, Freiheit und Selbstbestimmung, von Partnerschaft und Jungfräulichkeit, von Ehrenmord und Schande, von Reformen und Atatürk.

Gül schreibt überwältigend ehrlich und offen, ist oft schonungslos, spricht über die vielen Einschränkungen in ihrem Leben und über die Sehnsucht nach dem Ausbrechen aus den engen Schranken ihrer Erziehung, ihrer Familie und ihrer Kultur.

Mich hat der autobiografische Roman sehr berührt und mitgerissen, mir das Dilemma Büsras/Güls klar vor Augen gehalten, mich mitgenommen in Amsterdams Westen.

Zudem hat mich Gül perfekt unterhalten und mir viel Insider-Wissen über die Herausforderungen vermittelt, mit denen Einwanderer und Einwandererkinder tagtäglich zu tun haben: Festhalten an Traditionen, erschwerte Integration in das Einwanderungsland, Rassismus, Hass, Ablehnung.

Was mich gestört hat, war die falsche Verwendung des Begriffs „Schizophrenie“ auf Seite 265. Auch wenn dies nur ein sehr kleiner Teilaspekt des Buches ist und letztendlich keine Rolle für die Geschichte spielt, ist es mir wichtig, dies zu erwähnen, weil ich mir wünsche, dass es sich langsam herumspricht, dass eine Verwendung in diesem Kontext nicht nur unsinnig ist, sondern auch zur Stigmatisierung beiträgt.

Lale Gül: Ich werde leben. Aus dem Niederländischen von Dania Schüürmann. Suhrkamp Verlag, 2022, 349 Seiten; 18 Euro.

Ein Gedanke zu „Ich werde leben von Lale Gül“

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