„Ich selbst verband den Begriff Schizophrenie noch immer mit Vorurteilen und Ängsten. Eine groß angelegte Analyse über die Inhalte einiger deutschsprachiger Printmedien hatte bereits vor einigen Jahren ergeben, dass es den meisten Menschen damit genauso ging wie mir. […] In den meisten Fällen wurde der Begriff nur metaphorisch für etwas Absurdes, Abwegiges, Ärgerliches verwendet. […] Generell war das Wort Schizophrenie sehr häufig negativ besetzt. Diese negativen Eigenschaften wurden dabei den Betroffenen als Charaktermerkmale und nicht als Symptome der Krankheit zugeschrieben.“ (Seite 156f)
Cordt Winklers Vater litt an Schizophrenie, so dass dem Autor die Symptome der Erkrankung von Kindesbeinen an geläufig sind. Als Winkler in eine neue Stadt zieht und ein Studium beginnt, beschäftigt er sich mehr mit Schizophrenie und dem Leben seines Vaters – und erkrankt schließlich selbst.
In ICH ist manchmal ein anderer erzählt Winkler von High-Expressed-Emotions und Rückfallquote, Prodromalsymptomen und Früherkennung, Wahneinfall und Wahnsystem, Angst und postpsychotischer Depression, doppelter Buchführung und Psychiatrieaufenthalten, Psychopharmakotherapie und Nebenwirkungen, Vulnerabilitäts-Stress-Modell und kognitiver Verhaltenstherapie, Antipsychiatrie und Compliance.
Ich habe mich schon sehr viel mit Schizophrenie beschäftigt: wissenschaftlich in der Hirnforschung, im Rahmen universitärer Lehre und privat. Mir sind die Begrifflichkeiten, die Symptome, die Behandlung und die Ätiologie also bekannt, und ich habe durch Winklers Buch kaum Neues gelernt. Ich finde aber, dass sich ICH ist manchmal ein anderer sehr gut für einen Einstieg ins Thema Schizophrenie eignet, auch wenn ich ein paar Kritikpunkte habe.
Ich empfinde die Wahl des Buchtitels als eher unglücklich, denn ich finde, der Titel kann schnell missverstanden werden und fördert so das falsche Verständnis der Störung, wo man davon ausgeht, dass „Schizophrenie“ „multiple Persönlichkeit“ bedeutet. Diese Annahmen sind in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet und tragen meiner Meinung nach sehr zum Stigma und zur Ausgrenzung der Betroffenen bei, da vielen Menschen gar nicht klar ist, was Schizophrenie eigentlich ist. Und genau in diese Kerbe schlägt in meinen Augen der Titel ICH ist manchmal ein anderer, auch wenn ich nachvollziehen kann, was Autor/Verlag damit eigentlich suggerieren wollten.
Mein zweiter Kritikpunkt betrifft die wenig lebendigen und sehr unemotionalen Darstellungen der Wahninhalte Winklers. Der Autor berichtet von diesen auf eher trockene und sachliche Weise, wobei ich finde, dass gerade die hohe Emotionalität/Dynamik des Wahns in der Schizophrenie etwas Besonderes und wenig einfühlbar ist. Diese Einfühlbarkeit durch ein Buch oder durch persönliche Berichte zu ermöglichen, ist meiner Meinung nach eine gute Möglichkeit, Schizophrenie und Wahn verstehbar, einfühlbar, eindenkbar zu machen und in der Folge auf Betroffene empathisch reagieren zu können. Diese Chance wurde hier verpasst.
Das Buch liest sich durch die einfache Sprache schnell und flüssig, und es werden viele Informationen vermittelt. Damit eignet sich das Buch sehr gut für einen ersten Einstieg ins Thema Schizophrenie, aber für ein tieferes Verständnis der Komplexität der Störung und des Wahns finde ich andere Bücher besser geeignet, z.B. Kompass ohne Norden von Neal Shusterman, Morgen bin ich ein Löwe von Arnhild Lauveng und (ganz besonders!) Reisen in die Welt des Wahns von Achim Haug.
Cordt Winkler: ICH ist manchmal ein anderer. Mein Leben mit Schizophrenie. Goldmann, 2019, 235 Seiten; 10 Euro.
Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.