„Auf der einen Seite gab es Leute, für die Friedhöfe etwas Trauriges und Unheimliches waren, und auf der anderen solche – zu denen auch er selbst gehörte -, die an einem Ort wie diesem eine große Ausgeglichenheit empfanden, eine Verbundenheit mit sich selbst, als hätte hier plötzlich jemand die Lautstärke des Lebens heruntergedreht.“ (Seite 19)
Lyle und seine Ehefrau Peg haben vor langer Zeit ihren Sohn Peter verloren, der im Alter von neuen Monaten starb. Diese Wunde ist nie ganz verheilt, und noch immer besuchen sie regelmäßig Peters Grab.
Drei Jahre nach Peters Tod haben Lyle und Peg Shiloh adoptiert, die sie abgöttisch lieben, und als Shiloh als Erwachsene zwischenzeitlich wieder zu ihren Eltern zieht, kümmern sich die beiden liebevoll um Shilohs fünfjährigen Sohn Isaac.
Shiloh ist bereits in Studienzeiten tief gläubig geworden, während Lyle seinen Glauben nach Peters frühen Tod verloren hat, und nun tun sich unüberwindbare Gräben zwischen Shiloh und ihren Eltern auf, denn Shiloh ist in Kontakt mit einer Religionsgemeinschaft gekommen, die für ihre Eltern sektenartigen Charakter aufweist. Und bald zieht sich Shiloh immer mehr von ihren Eltern zurück, lässt den an Diabetes leidenden Isaac nicht adäquat behandeln, wirft dem Vater Gottlosigkeit vor und gibt ihm die Schuld an Isaacs Krankheit.
Ich habe schon mehrere Bücher von Nickolas Butler gelesen und mag seinen Erzählstil sehr.
Schon auf der ersten Seite von Ein wenig Glaube war ich mit allen Sinnen in der Geschichte, habe die Sonne gespürt, die Erde gerochen, die Grabsteine gesehen, die Stimmen der handelnden Personen gehört und das Karamell geschmeckt. Butler beschreibt seine Figuren und die Szenerie so lebendig, eindringlich und detailliert, dass man fast mit vor Ort ist.
Nach etwa 100 Seiten entwickelt der Roman, den ich von Anfang an so mochte, einen sehr starken Sog, so dass ich das Buch kaum noch weglegen konnte, und ich war mir sicher, ich halte ein Lieblingsbuch 2022 in den Händen.
Allerdings fand ich die Geschichte im weiteren Verlauf dann doch etwas weniger fesselnd, und ich habe manchmal Passagen quergelesen. Nichtsdestotrotz ist Butler ein sehr stimmungsvolles Buch gelungen, das ich gerne gelesen habe.
Nickolas Butler: Ein wenig Glaube. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel. Klett-Cotta, 2020, 382 Seiten; 17 Euro.