„Hin und wieder kann man in unserem Leben die Grenze zwischen Realität und Illusion nicht richtig ziehen. Die Grenze scheint unablässig in Bewegung zu sein und zu variieren.“ (Seite 291)
Nach der plötzlichen Trennung von seiner Frau, mit der er sechs Jahre zusammen war, verliert der Ich-Erzähler die Orientierung und den Bezug zu sich:
„Und wo soll ich jetzt hin? […] Wie weit ist es mit mir gekommen? Wo bin ich? Und noch dringlicher: Wer bin ich überhaupt?“ (Seite 36).
Er macht sich spontan auf eine mehrmonatige Reise durch Japan und lässt sich danach im Haus des Vaters seines Freundes Masahiko Amada nieder.
Dieses abgelegene Haus steht schon länger leer, da der Vater, Tomohiko Amada, dement ist und in einer edlen Seniorenresidenz lebt. Tomohiko Amada war Maler – genau wie der Ich-Erzähler, der sein Geld mit Porträtmalerei verdient -, und so gibt es in dem abgelegenen Haus, neben vielen Büchern und Schallplatten, einem Garten und einem Schrein, auch ein Atelier.
Nach der Trennung von seiner Frau will der Ich-Erzähler der Porträtmalerei den Rücken kehren und lieber für sich selbst und in seinem eigenen Stil malen. Doch er bringt nichts zustande, ist nicht kreativ, findet nicht zu seinem früheren Können zurück.
Da findet er auf dem Dachboden des Hauses ein in Papier eingewickeltes Bild von Tomohiko Amada, das den Titel „Die Ermordung des Commendatore“ trägt und das sein Leben völlig verändert. Er versinkt regelrecht in dem Bild und in Mozarts Oper „Don Giovanni“, in der ein Commendatore ermordet wird, macht wochenlang nichts anderes, als das Bild zu betrachten, will verstehen, was es mit dem Motiv auf sich hat.
Dann erhält er eines Tages das Angebot, für eine extrem hohe Geldsumme einen sehr reichen Mann zu porträtieren, nimmt das Angebot an, obwohl er mit der Porträtmalerei abgeschlossen und der Auftraggeber Konditionen hat, die seinem eigentlichen Arbeiten und seinen gewohnten Abläufen widersprechen.
Ich habe schon viel von Haruki Murakami gelesen – manche Bücher fand ich großartig (Untergrundkrieg, Mister Aufziehvogel), andere gut, aber nicht spektakulär (Naokos Lächeln), und zu einigen habe ich nur schwer Zugang gefunden (Kafka am Strand).
Die Ermordung des Commendatore ist in meinen Augen ein literarisches Meisterwerk und mit dem farbigen Schnitt, dem Lesebändchen, der wunderbaren Einbandgestaltung und dem transparenten Schutzumschlag zudem ein kleines Kunstwerk.
Die Ermordung des Commendatore ist ein sehr geheimnisvolles und bisweilen auch unheimliches und düsteres Buch, das mich auf sehr dezente Weise in seinen Bann geschlagen hat, denn hier passiert meiner Meinung nach nichts mit einem großen Paukenschlag, sondern der Leser wird eher auf langsame und beharrliche Weise ins Buch gezogen, so dass man gar nicht recht merkt, dass man eine ganz andere Welt betreten hat. Sobald man jedoch realisiert, dass man seine gewohnte Welt verlassen hat, gibt es kein Zurück mehr: Man kann sich von der Geschichte um den Porträtmaler nicht lösen, nicht distanzieren.
Murakamis Sprache ist oft poetisch, die Sätze perfekt konstruiert, und dennoch lässt sich der Roman einfach lesen, ist unterhaltsam und wirkt nie hölzern oder hochgestochen. Trotz der magischen Elemente erscheint Die Ermordung des Commendatore durchweg realistisch, und man glaubt dem Autor jedes Wort, auch wenn im Leben des Ich-Erzählers sonderbare Dinge passieren. Damit ist der Roman ein überzeugendes Werk des Magischen Realismus und reiht sich in andere überzeugende Werke des Genres ein: Pedro Páramo von Juan Rulfo, Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez oder Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow.
Die Ermordung des Commendatore bietet eine unglaubliche Fülle an Ideen, Beschreibungen, Gedanken, philosophischen Betrachtungen, Vergleichen. Der Roman ist inhaltlich dicht, und die Schilderungen sind ausführlich und fast minuziös, aber zu keinem Zeitpunkt wirkt der Roman überladen oder Passagen unnötig und langatmig. Trotz dieser Fülle an Themen, Inhalten, Geschehnissen lässt sich der Geschichte leicht folgen, weil sie sehr stringent erzählt wird und weil nichts von ihr ablenkt.
Der Roman bietet so viel, dass man beim Lesen kaum glauben kann, mit welch sprachlicher Eleganz Murakami seine verschiedenen Welten (zum Einen die wirkliche Welt eines Mannes, der erst wieder zu sich finden muss, zum Anderen eine Welt der Magie und Phantastik) und seine vielfältigen Themen (Malerei, Literatur, Musik, zwischenmenschliche Beziehungen, Mythologie, Religion etc.) zu einem gelungenen Ganzen zusammenfügt. Ich habe Murakamis Bücher meist gemocht, aber ich habe ihn nie als einen Literaturnobelpreiskandidaten gesehen. Dies hat sich mit dem ersten Band von Die Ermordung des Commendatore geändert!
Ein paar Wochen nach dem Lesen des Buches habe ich zudem das ungekürzte Hörbuch gehört, das von David Nathan exzellent gelesen wird. Er interpretiert Murakamis Roman überzeugend, und seine Stimme hat einen so angenehmen Klang, dass man stundenlang der Geschichte lauschen möchte. Er hat mir den Roman ein zweites Mal nahegebracht, mich erneut fasziniert und begeistert, mich noch neugieriger auf den zweiten Band von Die Ermordung des Commendatore gemacht und mir die Wartezeit bis zu dessen Erscheinungstag am 16. April 2018 verkürzt.
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 1: Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag, 2018, 477 Seiten; 26 Euro.
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 1: Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Hörbuch Hamburg, 2018; 26 Euro.
Romy Hase ich dreh durch ich glaub wir mögen die selben Bücher…sei feste gedrückt von Conny
Das glaube ich jetzt nicht, dass wir uns nach all den Jahren über meinen Blog und Murakami wiedergefunden haben. Wie cool ist das denn?!