„Ich lernte immer mehr, meine Eltern zu belügen. Anfangs waren es keine richtigen Lügen, aber da ich nicht die Kraft hatte, mich ihrer stets gut organisierten Welt zu widersetzen, tat ich so, als akzeptierte ich sie, und zweigte dabei auf einen Weg ab, den ich eilig verlassen konnte, sobald sich ihre Mienen verfinsterten.“ (Seite 59)
Giovanna war bisher eine gute Schülerin, doch dann brechen ihre Noten ein, und als sie eines Tages hört, wie ihr Vater, den sie anhimmelt, sie mit seiner verhassten Schwester Vittoria vergleicht, schleichen sich Zweifel in Giovannas Leben: Wird sie hässlich, ist sie abstoßend, hat sie einen schlechten Charakter?
Giovanna möchte mehr über Vittoria herausfinden, von der in ihrer Familie kaum gesprochen wird und mit der ihre Eltern kaum Kontakt haben. Sie sucht nach Fotos von Vittoria und steigert sich immer mehr in die Angelegenheit hinein. Giovanna hinterfragt vieles, fühlt sich wenig liebenswert, denkt, sie wird abgelehnt – und wird (ganz im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung) zunehmend mürrisch und immer unsicherer.
Dann möchte sie sich ein eigenes Bild von Vittoria machen, und ihre Eltern geben schließlich die Erlaubnis, die Tante zu treffen.
Ich bin großer Fan von Elena Ferrante, kenne und liebe ihre Neapolitanische Saga, aber auch frühere Romane der Autorin.
Auch Das lügenhafte Leben der Erwachsenen ist ein ganz typischer Ferrante-Roman mit viel Neapel-Flair, starken Frauenfiguren, überzeugenden Schilderungen von Gefühlen und komplexen Beziehungssituationen. Ferrante ist eine exzellente Beobachterin und schafft es, die Interaktionen zwischen Personen perfekt einzufangen, so dass ihre Romane (und auch Das lügenhafte Leben der Erwachsenen) eine außerordentliche psychologische Tiefe aufweisen.
Die Figuren haben mich ein wenig an Lila und Elena der Neapolitanischen Saga erinnert, wobei ich finde, dass Giovanna beide Mädchen in sich vereinigt.
Auch wenn der Schreibstil und die Figuren Wiedererkennungswert haben, ist Das lügenhafte Leben der Erwachsenen kein bloßer Abklatsch anderer Ferrante-Bücher, sondern erzählt eine ganz eigene Geschichte, der ich gerne gefolgt bin und von der ich mir eine Fortsetzung wünsche.
Sprachlich bewegt sich Ferrante auf dem gewohnt anspruchsvollen wie flüssig lesbaren Niveau, das sehr zum Lesevergnügen beiträgt.
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, 2020, 415 Seiten; 24 Euro.