Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

„Mir kommen gemeinsam erlebte Momente in den Sinn. Manche sind vergessen. Die ich verpasst habe, werden erfunden.“ (Seite 12)

Michkas Leben war stets unabhängig und selbstbestimmt, doch dann hat sich eine leichte Vergesslichkeit eingestellt, die schließlich zu Desorientiertheit und Ängsten führte. Hinzu kamen Stürze sowie mehr und mehr Probleme, sich auszudrücken, die passenden Worte zu finden. Schließlich ist klar, dass ein Leben allein für Michka nicht mehr möglich ist: Sie muss in ein Heim ziehen.

Dort ist ihr alles fremd, und das Zimmer, die Einrichtung, die Bewohner haben nichts mit Michka und ihrem bisherigen Leben zu tun. Unterstützt wird sie von ihrem Logopäden Jérôme, der mit ihr Übungen macht, um der zunehmenden Aphasie Einhalt zu gebieten, dem sie aber auch von ihrem Leben, von ihren Wünschen und Sorgen erzählt, sowie von Marie, um die sich Michka gekümmert hat, als Marie noch ein Kind war, und die sich nun um Michka kümmert.

Michka wird von Albträumen geplagt, die ihr große Angst machen, und von einem bisher unerfüllten Wunsch angetrieben, auf dessen Erfüllung sie vor dem vollständigen Abgleiten in die Demenz bzw. vor dem Tod hofft: Sie möchte das Paar finden, das sie als Kind bei sich aufgenommen hat, um sich bei ihnen zu bedanken.

Ich habe schon einige Bücher von Delphine de Vigan gelesen und bin jedes Mal aufs Neue begeistert davon, mit welcher Glaubwürdigkeit und Perfektion sich die französische Autorin auf immer neue Themen einlassen kann und wie es ihr gelingt, auf nur wenigen Seiten eine authentische, berührende und eindrucksvoll umgesetzte Geschichte zu erzählen. Hierbei ist Dankbarkeiten keine Ausnahme: Der Roman ist bewegend, ohne rührselig zu sein, und beim Lesen fühlt es sich so an, als stünde man in persönlichem Kontakt zu ihren Figuren, weil diese so lebendig und so lebensnah wirken.

Beeindruckend fand ich auch die Übersetzung von Doris Heinemann, wobei vor allem die Stellen überaus gelungen sind, wo Michkas Aphasie und Paraphasie zum Ausdruck kommt, wobei sich die anfänglichen Wortvertauschungen schließlich zu einem kaum noch verständlichen Kauderwelsch entwickeln.

Auch die Beschreibungen der Ängste, die mehr und mehr einen wahnhaften Charakter und paranoide Züge aufweisen, wurden von de Vigan hervorragend umgesetzt.

Ich finde, man liest in einem Buch stets auch seine persönliche Geschichte, gibt einzelnen Handlungssträngen und Handlungsverläufen ein bestimmtes Gewicht, interpretiert Verhalten, Gedanken und Gefühle im Kontext des eigenen Lebens. Für mich geht es in Dankbarkeiten vor allem darum, wichtige Gespräche, Wünsche, Sehnsüchte zu kommunizieren, solange man die Möglichkeit hat. Es geht darum, die Zeit, die man hat, für diejenigen Dinge zu nutzen, die einem am Herzen liegen. Und es geht darum, dass nichts schlimmer ist, als etwas nicht gesagt oder nicht getan zu haben, und zu merken, dass es hierfür nun zu spät ist.

Delphine de Vigan: Dankbarkeiten. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Buchverlag, 2020, 176 Seiten; 20 Euro.

2 Gedanken zu „Dankbarkeiten von Delphine de Vigan“

  1. Liebe Romy,

    danke für diesen Buchtipp! Ich habe mir daraufhin „Loyalitäten“ von derselben Autorin gekauft (einfach erstmal, weil es das bereits als TB gibt) und in zwei Zügen gestern und heute durchgelesen. Fazit: Eine ungekünstelte Sprache und ein Thema (ein Kind gleitet in die Alkoholabhängigkeit ab), das mich sprachlos gemacht und mir das Gefühl vermittelt hat, mich im freien Fall zu befinden. „Dankbarkeiten“ steht nun also weit oben auf meiner Endlosliste der unbedingt zu lesenden Bücher!
    Grüßle,

    Kristin

    1. Hallo, liebe Kristin. Das ist schön! Ich kann alle anderen Bücher auch empfehlen, besonders Das Lächeln meiner Mutter. Liebe Grüße, meld mich sicher bald bei dir.

Dazu hab ich auch was zu sagen!