„Wenn du deinem Lehrling nicht vertrauen kannst, kannst du auch kein Brunnenbauer werden. Man muss absolut sicher sein, dass der Junge da droben alles richtig und zur rechten Zeit macht. Nur dann kann man ihn vergessen und sich auf seine Arbeit konzentrieren. Als Brunnenbauer kann nur bestehen, wer seinem Lehrling vertraut wie einem Sohn.“
Der Vater des Ich-Erzählers Cem verschwindet eines Tages spurlos und lässt seine Frau und seinen Sohn allein zurück. Obwohl Cem gerne studieren möchte, was auch dem Wunsch seines Vaters entsprochen hatte, der in dem Sohn einen späteren Wissenschaftler gesehen hat, nimmt er vorerst eine Stelle bei einem Brunnenbauer an.
Die Arbeit mit Meister Mahmut, der im Istanbuler Vorort Öngören nach Wasser sucht, ist hart und anstrengend, doch Meister Mahmut wird bald zu einer Art Ersatzvater, der für Cem eine stabilere Vaterfigur darstellt, als es sein leiblicher Vater vermochte.
Doch Cems eigentlicher Höhepunkt bei der Arbeit in Öngören ist seine Begegnung mit „der rothaarigen Frau“, in die er sich verliebt, deren Nähe er sucht, die deutlich älter als er und zudem verheiratet ist, mit der er aber schließlich eine Nacht verbringt.
Doch dann kommt es zur Katastrophe: Während Cem am Brunnenrand steht und auf Meister Mahmuts Anweisungen wartet, inspiziert der Meister den Boden des ausgehobenen Brunnens, in dem noch immer kein Wasser fließt, und wird von einem heruntergefallenen Eimer erschlagen.
Cem flieht aus Öngören und versucht, ein neues Leben ohne die zermürbenden Gedanken an den Meister zu beginnen, doch die Schuld und auch die Gedanken an die rothaarige Frau holen ihn immer wieder ein.
Ich habe vor vielen Jahren Rot ist mein Name des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk gelesen, und obwohl ich damals begeistert von seinem Roman war, hat es mehr als zehn Jahre bis zu meiner zweiten Begegnung mit dem türkischen Autor gedauert.
Die rothaarige Frau wird sehr geradlinig und klar erzählt und unterscheidet sich damit stark von der häufig opulenten Erzählweise der orientalischen Tradition. Trotz des Fehlens von sprachlicher Ausschweifung zeichnet sich der Roman jedoch durch ein sehr komplexes Spiel mit Sagen und Epen aus und wirkt dadurch bisweilen märchenhaft.
Pamuk bindet zwei berühmte Epen/Sagen in seine Geschichte um Cem ein: Zum Einen erwähnt er das persische Nationalepos Schāhnāme des Dichters Firdausi, in dem im Versformat vom Helden Rostam und seinen Taten sowie von seinem Sohn Sohrab erzählt wird, wobei Sohrab aus Unkenntnis über seine wahre Identität von seinem eigenen Vater getötet wird. Zum Anderen verwebt Pamuk die Geschichte des Ödipus aus der griechischen Mythologie, der unwissentlich seinen Vater tötet und aus Unkenntnis seine Mutter heiratet, mit den Ereignissen in seinem Roman. Pamuk entwirft so nicht nur ein komplexes Werk, sondern verbindet auch Orient und Okzident.
Mich hat Pamuks aktueller Roman von Anfang bis Ende überzeugt, denn die Verwebung von Mythos und Realität, von Vergangenheit und Gegenwart, von Morgenland und Abendland ist ihm durchweg gelungen. Zudem ist Pamuk meiner Meinung nach ein sehr gutes Beispiel für einen Autor, dessen Romane sowohl unterhaltsam als auch anspruchsvoll geschrieben sind.
Das (nicht gekürzte) Hörbuch wird sehr ansprechend und fesselnd von Thomas Loibl und Eva Mattes gelesen. Die beiden Sprecher liefern dem Roman die passende Interpretation und hauchen den Figuren Leben ein.
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Gelesen von Eva Mattes und Thomas Loibl. der Hörverlag, 2017; 22,99 Euro.
Dieser Post ist Teil des Griechenland-Monatsthemas im Mai 2021.
Ich war positiv überrascht von dem Buch. Pamuk hat Stil und große Ideen & verfängt sich dann oft im eigenen Netz…
auch tendierte er seit „Das Schwarze Buch“ dazu, Frauen eher als Projektionsflächen denn als runde Charaktere zu zeichnen. Da hatte ich angesichts des Titels einige Bedenken. Aber es war am Ende einer des stärkeren Romane des Autors.
Fand’s auch toll, kenne ansonsten aber „nur“ „Rot ist mein Name“, was ich großartig fand.