„Bin Vishnu in der Himmelswelt,
Im Sternenheer der Sonne Pracht.
Mit einem Bruchteil meines Seins
Durchdringe ich die ganze Welt.“
(Aus Krishnas Gespräch mit Arjuna,
Bhagavadgita, Zehnter Gesang)
Vishnu ist „der Erhalter“ der Welt in der göttlichen Dreigestalt des Hinduismus, während Brahma „der Schöpfer“ und Shiva „der Zerstörer“ ist. Er ist ein Gott der Güte und der Wahrheit und tritt der Legende nach in zehn Avatars auf, u.a. als Krishna und als Buddha. Die zehnte und letzte Inkarnation Vishnus steht noch aus. Es ist die des Kalki, der am Ende von Kaliyuga auf einem weißen Pferd erscheint, die Bösen bestraft, die Guten belohnt und die Welt zerstört.
Manil Suri erzählt von einem Wohnhaus in Bombay, in dem auf dem Treppenabsatz Vishnu lebt. Er ist schon seit längerer Zeit dort zu Hause, hat jahrelang kleinere Dienste für die Hausbewohner erledigt und liegt nun im Sterben. Während die Asranis und die Pathaks miteinander streiten, wer den Krankenwagen bezahlt und wer sich bisher besser um Vishnu gekümmert hat, erinnert sich Vishnu an sein Leben, an seine Liebe zu Padmini und an seine Mutter, die ihm vom Gott Vishnu erzählt hat.
Vishnus Erinnerungen und Visionen werden mit den Geschichten der Hausbewohner verwoben, die mit unerlaubter Liebe, Verlust, Tod und der Suche nach dem Sinn des Daseins zu kämpfen haben.
Vishnus Tod liest sich unterhaltsam, ist farbenfroh und realitätsnah, erzählt von dem Zusammenleben verschiedener Kasten und Religionen und den Problemen, die sich dadurch bisweilen ergeben. Suri verzichtet auf die Schilderung politischer Ereignisse und auch weitestgehend auf eine Beschreibung der Welt außerhalb des Mietshauses, sondern beschränkt sich auf die kleine Welt der Asranis, der Pathaks, der Jalals, Vishnus und des Witwers Vinod Teneja.
Durch die Erlebnisse und Erinnerungen der (sehr überzeugend charakterisierten) Hausbewohner entsteht ein Gesamtbild der indischen Gesellschaft: Traditionen, Zwänge, Armut, doch auch Liebe, Glück und Zugehörigkeit. Der Leser erhält zudem Einblicke in die Bhagavadgita und den Mahabharata und lernt damit die religiöse Seite und die Legenden Indiens kennen.
Manil Suri: Vishnus Tod. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. Luchterhand Literaturverlag, 2001, 398 Seiten; vergriffen.
Diese Rezension ist Teil des Indien-Themas im Januar 2017.