
„Diese Geschichte hat mehrere Anfänge. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass sie nur aus Anfängen besteht. Aber erklären Sie mir doch, was ein Anfang ist. Erklären Sie mir zum Beispiel, ob die Nacht vor oder nach dem Tag kommt. Ob wir nach dem Schlafen erwachen oder ob wir nur schlafen, weil wir wach waren. Oder noch einfacher: Um Sie nicht mit meinen Abschweifungen zu nerven, sagen Sie mir doch, wo ein Baum beginnt. Beim Samen oder bei der Frucht, zu der dieser Samen vorher gehörte. Oder doch bei dem Ast, an dem diese Blüte keimte, ehe sie später zur Frucht wurde. Oder bei der Blüte selbst. Kommen Sie noch mit? Nichts ist so simpel, wie es scheint.“ (Track 1)
Die Hausangestellte Estela García, genannt Lita, erzählt von ihrem Leben bei einer wohlhabenden Familie in Chile. Sie wird herumkommandiert und ausgenutzt. Doch sie hat eine (anscheinend) gute Bindung zur Tochter der Señora. Auch diese ist letztendlich jedoch auch geprägt von Klassenunterschieden und der damit zusammenhängenden Respektlosigkeit gegenüber der Hausangestellten.
Dann ist das Mädchen tot, und die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal kann sie ihre Geschichte erzählen lassen, und andere hören ihr zu.
Ich empfand diesen Roman als sehr einfühlsam, spannend und unterhaltsam, gleichzeitig schockierend und aufgrund der unüberbrückbaren Klassenunterschiede, die hervorragend herausgearbeitet wurden, als sehr relevant und wichtig. Die Autorin beschreibt hier die tiefe gesellschaftliche Kluft zwischen einer Hausangestellten und deren Dienstherren auf sehr gekonnte und sehr bewegende Weise.
Alia Trabucco Zerán erzählt von Unterdrückung und Abwertung. Und diese Szenen machen beim Hören wütend, lassen die Gefühle und Gedanken von Lita nachvollziehbar und verstehbar werden.
Das Hörbuch wird sehr überzeugend, gefühlvoll und fesselnd von Heike Warmuth eingelesen. Mir hat an diesem Buch alles gefallen.
Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Übersetzung von Benjamin Loy. Ungekürzte Lesung von Heike Warmuth. Argon, 2024; 20,95 Euro.