„[…] normal ist, dass die Leute glauben, sich das, was ihnen ohnehin passiert, was ihnen zustößt, was sie erreichen oder was ihnen in den Schoß fällt, zu wünschen, ohne dass vorher in Wahrheit überhaupt Wünsche bestanden hätten.“
Keine Liebe mehr beinhaltet 30 Erzählungen von Javier Marías, die der spanische Autor zwischen 1968 und 2005 geschrieben hat. Diese wurden zum Teil bereits in den beiden Erzählbänden Während die Frauen schlafen und Als ich sterblich war veröffentlicht, einige Erzählungen waren mir allerdings nicht bekannt, so dass ich annehme, dass sie bislang unveröffentlicht waren.
Ich schätze Marías als Romanschriftsteller sehr und kenne sowohl seine frühen Romane Der Gefühlsmensch, Mein Herz so weiß und Morgen in der Schlacht denk an mich als auch seine in den letzten Jahren erschienenen Bücher Die sterblich Verliebten und So fängt das Schlimme an. Mit seinen Essays (Das Leben der Gespenster) und seinen Erzählbänden Während die Frauen schlafen und Als ich sterblich war konnte ich mich, als ich diese vor mehr als 15 Jahren gelesen hatte, jedoch nur zum Teil anfreunden, wobei ich die Erzählung Während die Frauen schlafen schon damals als echtes Kleinod empfand, vor allem in der brillanten Lesung von Otto Sander. Da ich Marías als meinen absoluten Lieblingsautor betrachte und manche Bücher erst beim zweiten Lesen und/oder mit mehr Lebenserfahrung ihre wahre Bedeutung und Tiefe entfalten, war ich gespannt auf den Erzählband Keine Liebe mehr, der im Herbst 2016 anlässlich des 65. Geburtstags des spanischen Autors veröffentlicht wurde.
Auch in Marías‘ Erzählungen finden sich die für den Autor so typischen Schachtelsätze mit unzähligen Einschüben, die es dem Leser nicht immer einfach machen, für die ich den Autor jedoch sehr schätze, denn er ist schlichtweg ein Meister darin. Wie immer bei Marías ist kein Wort zu viel, und die Satzstruktur ist perfekt durchdacht und geschickt konstruiert.
Marías erzählt in Keine Liebe mehr kluge Geschichten mit bisweilen außergewöhnlichen Protagonisten, die allesamt hervorragend charakterisiert wurden. Dabei erinnern manche Erzählungen stark an seine Romane, und Auf der Hochzeitsreise ist extrem an die Szene in Havanna angelehnt, die man im Roman Mein Herz so weiß findet. Andere Erzählungen haben Bezüge zu Marías selbst, z.B. die Verweise auf den König von Redonda in Ein Treue-Epigramm. Wieder andere Erzählungen sind schlichtweg genial und sehr typisch für Marías, wie z.B. Während die Frauen schlafen, Gualta und Ein riesiger Gefallen.
Zu manchen Erzählungen habe ich trotz meiner Faszination für Marías und seine Schreib- und Erzählkünste keinen Zugang gefunden, aber das halte ich für völlig normal in einem Erzählband mit 30 Texten, die inhaltlich so unterschiedlich sind und über mehrere Jahrzehnte hinweg geschrieben wurden. Alles in allem haben mir die sogenannten „akzeptierten“ Erzählungen deutlich besser gefallen als die sogenannten „akzeptablen“ im zweiten Teil des Buches.
Javier Marías: Keine Liebe mehr. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, 2016,512 Seiten; 25 Euro.