Der Optiker von Lampedusa von Emma Jane Kirby

„Ich bin kein verdammter Held, dachte er. Ich habe versagt. Wir alle haben versagt. Wir, Italien, Europa: wir alle.“

Carmine Menna ist Optiker und lebt mit seiner Frau auf Lampedusa. Er liebt das Meer, und so verbringt er einen wohlverdienten Kurzurlaub mit seiner Frau und einigen engen Freunden auf einem Boot. Er genießt die Ruhe, das Fischen und das Baden im Meer, doch dann hört er im Morgengrauen sonderbare Geräusche, die er anfangs für kreischende Möwen hält.

Dann entdeckt er Menschen im Wasser, die um Hilfe rufen und um ihr Leben kämpfen. Es sind Hunderte, und der Optiker von Lampedusa begreift, „dass er würde entscheiden müssen, wer leben durfte und wer sterben müsste“.

Emma Jane Kirby hatte die einzigartige Möglichkeit, mit dem Optiker zu sprechen, der ansonsten keine Interviews gegeben und mit keinem Journalisten über die traumatischen Ereignisse geredet hat. Kirby hat seine Geschichte in Der Optiker von Lampedusa auf wenigen Seiten zusammengefasst und lässt den Leser an den Vorbereitungen des Boottrips, der Rettungsaktion und den Konsequenzen der Katastrophe für den Optiker, seine Frau und seine Freunde teilhaben.

Kirby erzählt die Geschichte in der dritten Person Singular Präsens, was ich als sehr distanziert empfand. Zudem wird der Optiker als wenig sympathischer, extrem kontrollierter und wenig flexibler Zeitgenosse beschrieben, was zusätzlichen Abstand zum Leser aufbaut. Mein anfänglicher Eindruck änderte sich jedoch mit den Beschreibungen der Rettungsaktion, als der distanzierte, unflexible Optiker sofort und ohne zu zögern zusammen mit seiner Frau und seinen Freunden 47 Menschen rettet, die nach dem Kentern eines Flüchtlingsbootes im Wasser treiben. Diese Passage im Buch hat mir hervorragend gefallen, den Kirby gelingt es, die Minuten im Kampf gegen den Tod durch Ertrinken realistisch und detailliert zu schildern, wodurch diesen Szenen etwas Gespenstisches und Unheimliches anhaftet.

Auch die Beschreibungen der ausgeprägten Schuldgefühle, die den Optiker und seine Freunde quälen, weil sie „nur“ 47 Menschen gerettet haben, aber Hunderte Menschen ertrunken sind, wirken sehr authentisch und überzeugend. Der Optiker ist von Selbstzweifeln zerfressen, er hat das Gefühl, versagt zu haben, er findet nicht in sein altes Leben zurück, empfindet seine Arbeit, die ihm stets Freude bereitet hat, als belanglos, seine tagtägliche Routine lächerlich unwichtig.

Trotz kleinerer Abstriche aufgrund der distanzierten und dadurch eher hölzernen Sprache wünsche ich dem Buch viele Leser, da Kirby eine Situation schildert, wie sie im Mittelmeer immer wieder geschieht, von der wir aber kaum emotional betroffen sind, da sie weit weg scheint. Kirby ermöglicht dem Leser durch ihre Geschichte eine Annäherung an das Thema der kenternden Flüchtlingsboote und den damit verbundenen Tod von Hunderten Menschen, indem sie Einzelschicksale darstellt und den Leser so emotional involviert, was das Buch zu einem sehr wertvollen Beitrag macht.

Emma Jane Kirby: Der Optiker von Lampedusa. Die Geschichte einer Rettung. Aus dem Englischen von Paulina Abzieher und Hans-Christian Oeser. Berlin Verlag, 2017, 159 Seiten; 16 Euro.

Dieser Post ist Teil des Themas „Flucht und Migration“ im April 2017.

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