Allein unter Flüchtlingen von Tuvia Tenenbom

„Durch die Öffnung seiner Grenzen für die Flüchtlinge hat sich Deutschland große Anerkennung erworben. Doch durch die absolute Planlosigkeit, was mit den Flüchtlingen zu tun ist, sobald sie einmal im Land sind, hat es ihr Schicksal besiegelt. Was die Flüchtlinge in diesen Lagern durchmachen – von endloser Langeweile über erschreckende Messerstechereien, kaputte Toiletten und fades Essen bis zum Zusammenpferchen ehemaliger Feinde und der mangelhaften Hygiene in allen Räumen -, wird Folgen für ihr gesamtes späteres Leben haben.“

Tuvia Tenenbom ist durch Deutschland gereist, um ein Buch über Flüchtlinge zu schreiben. Unterwegs sucht er Personen auf, die aus ihrer Heimat geflohen sind, und solche, die Flüchtlingen helfen wollen, spricht mit Menschen, die keine Flüchtlinge im Land haben möchten, stellt Politikern wie Gregor Gysi, Frauke Petry und Henriette Reker unangenehme Fragen, interviewt Lutz Bachmann und Akif Pirinçci, trifft sich mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland und mit Antifa-Aktivisten, besucht Flüchtlingsheime in Berlin, in ostdeutschen und bayerischen (Klein-) Städten und in anderen Regionen Deutschlands – und stellt so Vergleiche an und versucht zu verstehen, was in Deutschland passiert und warum es passiert ist.

Tenenbom schreibt bissig und bitterböse, wobei mich sein Schreibstil und sein Humor bisweilen an Bill Bryson erinnert haben. Und wie bei Bryson war ich mir beim Lesen nicht immer sicher, ob das Ganze noch amüsant oder zu zynisch und unter der Gürtellinie ist. Auch nach der Lektüre bin ich mir nicht 100%ig sicher, wie ich Tenenbom einordnen soll, aber dass er mit Allein unter Flüchtlingen frischen Wind in die Flüchtlingsdiskussion bringt, dass er Dinge nicht schwarz/weiß sieht, sondern komplex betrachtet, und dass er dem Leser durch unbequeme Fragen an seine Interviewpartner Neues vermittelt, dessen bin ich mir sicher.

Tenenbom lässt oft kein gutes Haar an den im Buch erwähnten Personen, obwohl deutlich wird, dass er Araber und Deutsche mag und schätzt. Und er zeigt die menschliche Seite von erklärten Bösewichtern wie Petry oder Pirinçci. Das ist für viele Leser sicher unangenehm, weil eine Glorifizierung von Hilfesuchenden und Hilfeleistenden sowie eine Verteufelung von Rassisten und Xenophoben sicher einfacher und bequemer ist, doch Tenenbom gelingt damit etwas, das Seltenheitswert hat: Er zeigt, dass es kein simples Gut und Böse gibt, dass alles zwei Seiten hat, dass die Öffnung der Grenzen, die ich voll und ganz befürworte und für die ich Angela Merkel sehr wertschätze, auch eine hässliche Seite hat, die mir trotz aktiver Flüchtlingshilfe in einem kleinen baden-württembergischen Ort entgangen ist, vielleicht weil die Uhren dort anders tickten und die ehrenamtliche Hilfe dort besonders gut funktioniert hat. Tenenbom zeigt aber: Solche räumlichen und personellen Gegebenheiten wie in einer wohlhabenden Kleinstadt sind die Ausnahme, die Regel trifft man in Einrichtungen wie dem Tempelhofer Flüchtlingszentrum an.

Obwohl ich anfangs ambivalent war, ob ich Tenenbom nicht doch ein wenig zu boshaft und negativ finde, musste ich mir im Laufe der Lektüre eingestehen, dass ich den Autor mit seiner frotzeligen Art und seinem schwarzen Humor mag, zumal er zwischendurch immer wieder von seinen Gefühlen übermannt wurde, über diese offen schreibt und dadurch wunderbar menschlich wirkt.

Allein unter Flüchtlingen war mein erstes, aber sicherlich nicht mein letztes Buch von Tenenbom, der durch seine Fragen und durch seine Betrachtungen meine heile Welt bisweilen auf den Kopf zu stellen vermochte, wofür ich ihm ehrlich dankbar bin.

Tuvia Tenenbom: Allein unter Flüchtlingen. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Adrian und Bettina Engels. Suhrkamp, 2017, 234 Seiten; 13,95 Euro.

Dieser Post ist Teil des Themas „Flucht und Migration“ im April 2017.

4 Gedanken zu „Allein unter Flüchtlingen von Tuvia Tenenbom“

  1. Huhu, ich bin gerade auf deinen Blog gestossen, weil deine Rezi zu „Frauen dürfen hier nicht träumen“ auf einem anderen Blog verlinkt war:-) Und habe mal ein bisschen weiter gestöbert. Da sind mal gute Bücher dabei (gerade auch an Sachbüchern!) ich lese selbst sehr gerne Sachbücher und das Thema Flüchtlinge/Nahost interessiert mich da auch sehr. Ich bleibe mal hier (bzw folge auf fb;-) ) Liebe Grüße, Kathrin

    1. Liebe Kathrin,

      vielen Dank für deinen Kommentar! Ich freu mich, dass du hier fündig geworden bist und hoffe, auch in Zukunft ist etwas für dich dabei.

      Hast du denn schon mein Iran-Thema, mein Arabische Halbinsel-Thema und mein Palästina/Israel-Thema entdeckt? Irgendwann kommt bestimmt auch noch ein Maghreb-Monat :-). Du siehst, ich habe auch eine gewisse Affinität zu Nahost :-).

      Liebe Grüße,
      Romy

      1. Ja, ich habe heute noch etwas ausführlicher gestöbert auf deinem Blog. Da sind wirklich ganz tolle Bücher dabei. Auch die Kategorien sind interessant, gerade Tiere und Nahost sind Themen, bei denen ich immer gerne lese. Ich finde es klasse, dass du so viele Sachbücher vorstellst! Ich komme sicher öfters vorbei:) Liebe Grüße!

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